Wenn am Bau etwas schief geht, steht als erstes immer der Architekt in der Kritik. Hat Meinhard von Gerkan schon beim Entwurf des Bahnhofs einen entscheidenden Fehler gemacht?
Nein. Mit der Standsicherheit hat der Architekt nichts zu tun. Die fällt in den Verantwortungsbereich des Tragwerksplaners, des Prüfingenieurs und der Bauleitung, Möglicherweise gab es auch noch eine Qualitätsüberwachung.
Die Bauleitung lag bei der Bahn...
...oder bei einem Erfüllungsgehilfen der Bahn. Da sind viele, die Verantwortung tragen. Aber der Architekt ist nun mal derjenige, mit dessen Namen man ein Gebäude verbindet.
Wer könnte denn schuld sein am Absturz des Stahlträgers?
Es gibt drei verschiedene Bereiche, die in Frage kommen. Erstens: Planung und Prüfung. Das halte ich bei dem System, das wir in Deutschland haben, für relativ unwahrscheinlich. Zweitens: Ausführungsmängel. Das heißt: Es wurde einfach nicht so gebaut, wie geplant. Das ist eine Möglichkeit. Und drittens: Veränderte Klimaverhältnisse. Die normativen Lastannahmen, die der Berechnung zugrunde lagen, sind vielleicht für die heutigen Windkräfte und das Wissen darüber nicht mehr angemessen.
Zur Person
Dr. Hartmut Kalleja ist Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Prüfstatiker
Das heißt, man muss heute mit stärkerem Sturm rechnen als früher? Am Bahnhofsdach soll es ja Windstärken bis 12 gegeben haben.
Wir Baustatiker rechnen nicht mit Windstärken, sondern mit Staudrücken in Abhängigkeit von der Höhe. Wenn der Wind auf ein Bauwerk drückt, dann muss er drum herum geführt werden und weicht dabei nach oben aus. Es entstehen Wirbel und starke Sogkräfte, die wir als Sogspitzen bezeichnen. Sie ziehen Bauteile nach oben.
Ist der Wind in den letzten Jahren stärker geworden, weil das Klima sich verändert hat?
Ja. Berlin ist kein Einzelfall. Es gab etwa die Windhosen in Hamburg-Harburg. Das Klima ändert sich, die Windgeschwindigkeiten haben zugenommen. Das führte dazu, dass im Juli 2005 eine neue DIN-Norm für Windlast-Annahmen veröffenlicht wurde, die auf den neuesten meteorologischen Daten basiert.Die Soglasten sind jetzt teilweise höher anzusetzen, als wenn man vor fünf Jahren gerechnet hätte.
Ist der Berliner Hauptbahnhof noch nach der alten DIN-Norm berechnet?
Auf jeden Fall. Die neue wurde erst zum Januar 2007 eingeführt. Ein Statiker hätte die neue Norm vor diesem Zeitpunkt nicht anwenden dürfen, es sei denn, der Bauherr hätte darum gebeten und dazu die Genehmigung erteilt. Das ist äußerst unwahrscheinlich.
Könnte durch den starken Wind der gesamte Bahnhof in Bewegung geraten sein, so dass ein Rütteleffekt entsteht und am Ende der Träger abstürzt?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Brücken schwingen. Hochhäuser können an der Spitze bis zu zwei Meter hin und her schaukeln. Aber der Bahnhof ist vermutlich kein schwingungsanfälliges Bauwerk. Selbst wenn das gesamte Bauwerk in Bewegung kommt, dann passiert das so gleichmäßig, dass von dieser Bewegung kein Träger hinunterfallen kann.
Der abgestürzte Stahlträger war "schwimmend aufgelegt". Wie hat man sich das vorzustellen?
Er ist horizontal nicht fest gelagert, sondern hat die Möglichkeit, sich in der Ebene in allen Richtungen zu bewegen. Meist liegen zwei Folien unter dem Aufleger, die wie ein Gleitmittel wirken. Wenn der Träger sich also durch Hitze ausdehnt oder durch Kälte zusammenzieht, dann kann er sich frei bewegen. Das ist ganz normal.
Um wie viel bewegt er sich denn?
In der Regel sind das Millimeter, aber das kann schon auch bis in den Zentimeterbereich gehen.
Gibt es solche Konstruktionen häufig?
Sehr häufig. Vor allem im Brückenbau wird viel mit schwimmenden Lagern gearbeitet.
Am Bahnhof wurden jetzt zur Sicherung der Stahlträger Laschen angeschweißt. Hat das Nachteile?
Nur wenn man mehrere Laschen an einen Träger vollständig anschweißt. Der Träger will sich ja bewegen, er wird durch Temperaturänderungen und Winddruck belastet. Wenn er starr mit den Auflagern verbunden ist, entstehen Zwangskräfte, dann reißt er ab. Aber die Laschen sind vermutlich nur an einer Seite angeschweißt.
Hatte da jemand zu viel Vertrauen auf das Eigengewicht des Trägers, immerhin rund 1,5 Tonnen?
Das glaube ich nicht. Ich nehme an, dass alles exakt berechnet wurde. Und dass die Berechnungen auch geprüft wurden.
Wird sowas auch an Modellen getestet?
Der Regelfall, bei 99 Prozent der Bauwerke, erfolgt ein rechnerischer Nachweis. Das ist ausreichend. Die Rechnungen beruhen auf Lastannahmen für alle Beanspruchungen, die auf das Bauteil einwirken. Aber es gibt auch noch zusätzliche Sicherheitsfaktoren. Weil es sein kann, dass mal ein Blech zu dick geschnitten ist und der Träger nun nicht gerade eine Tonne wiegt, sondern etwas mehr. Oder dass ein Stahlträger nicht vier Meter lang ist, sondern vier Meter und zwei Zentimeter. Solche Ungenauigkeiten werden durch einen Sicherheitsbeiwert erfasst. Das ist eine zusätzliche und ausreichende Sicherheit gegen Einsturz.
Könnte der Träger aus minderwertigem Stahl gefertigt sein und deshalb ein zu geringes Gewicht haben?
Das ist sehr unwahrscheinlich. Stahl hat immer ungefähr dasselbe Gewicht. Es darf nur Material verwendet werden, das zugelassen ist. Alle Materialien sind in der Regel geprüft und haben einen Prüfstempel. Um die Verwendung von minderwertigen Materialien zu verhindern, müssen dem Prüfingenieur Prüfzeugnisse zum Material vorgelegt werden. Weiterhin müssen die Firmen eine Eigenüberwachung nachweisen. Deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass minderwertiges Material eingebaut wird.
Einige Glasscheiben im Bahnhofsdach sind gerissen. Ist das normal, wie die Bahn behauptet?
Ja, das kann sogar passieren, wenn eine Krähe eine Nuss fallen lässt.
Sie sind Prüfstatiker. Was wird denn alles unter die Lupe genommen?
Erstens wird die statische Berechnung geprüft. Dann die Konstruktionszeichnungen. Im Stahlbau werden die Werkstattpläne des Stahlbauers geprüft. Und dann gibt es noch eine konstruktive Bauüberwachung. Dabei guckt man sich die einzelnen Bauteile auf der Baustelle an. Allerdings ist das in Berlin auf Stichproben beschränkt.
Kann man nachvollziehen, wer welches Teil geprüft hat?
Ja. Und das wird im Gutachten über den vorliegenden Schadensfall auch gemacht werden. Und zwar sehr dezidiert.
Wie lange dauert so ein Gutachten?
Das geht nicht so schnell. Ich bin ja selber öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger und arbeite viel für Gerichte. Im Verfahren sind immer bestimmte Ladungsfristen und bestimmte Wege einzuhalten. Das lässt sich nicht abkürzen. Ein Gutachten kann man deshalb nicht in drei, vier Wochen erstellen. Das dauert einige Monate.
Wie viele Leute gucken auf so ein Gebäude und auf die Pläne, bis alles geprüft und endgültig durch ist. Auf wie vielen Schultern liegt da Verantwortung?
Im Regelfall wird zunächst mal eine Planung in einem Büro aufgestellt. Im Büro des Planenden wird dann noch mal gegengeprüft oder die Planung durchgesprochen. Deshalb tragen Konstruktionszeichnungen meistens zwei Unterschriften. Das wäre die erste Prüfungsstufe. Dann geht es zum Prüfingenieur für Baustatik. Der prüft nochmals und stempelt dann entsprechend zur Ausführung frei. Und dann haben sie bei großen Bauvorhaben oft noch eine Qualitätssicherung. Das heißt also sie hätten bei großen Bauvorhaben bis zu drei Prüfungsstufen.
Das müsste eigentlich genügen.
Wir sind in Deutschland vorbildlich. Wir machen wesentlich mehr als unsere Nachbarländer. Ich wüsste gar nicht, wo es so ein gutes System der Prüfingenieure sonst noch in der Welt gibt. Wir haben sehr wenige Schadensfälle. In anderen Ländern passiert viel mehr. Aber kein System kann hundertprozentige Sicherheit liefern, immer nur eine sehr, sehr hohe Sicherheit. Es gibt einfach keinen Teilsicherheitsfaktor für menschlichen Irrtum.
Wurde vielleicht in der Eile vor der Fußball-Weltmeisterschaft manches zu schnell entschieden?
Nein. Die Planung hatte ja einen erheblichen Vorlauf. Da ist nichts übereilt passiert.
Und bei der Konstruktion?
Es kann sein, dass bei der Ausführung ab und zu Druck war und dass da in Tag- und Nachtschichten gearbeitet wurde.
Menschliches Versagen also als Grund für den Absturz des Trägers?
Das ist sicher nicht auszuschließen.