Oft saß er einfach da auf seinem Stuhl und sah der Sonne zu. Einmal mehr glitt sie ins Wasser, ganz da hinten, wo Meer und Himmel sich berühren. Sie wich der Nacht, wie sie es immer tat, er saß und schwieg und schaute, wurde ruhig und spürte es kommen, das Gefühl. Ganz bei sich war er dann, nichts störte ihn, das Große, Ganze um ihn herum, nur Wellen, Wind und Meer, er in der Mitte, und ganz klein. "Es ist nicht so, dass es immer gleich aussieht", sagt er, "nein, nein, jeder Sonnenuntergang ist anders, ich habe tausende gesehen." Schweigt. Und sagt plötzlich kein Wort mehr.
Warum, Herr Kaiser? Er lacht. "Ich fand es auf einmal so...", er sucht nach einem Wort, "...so nebensächlich", dreht sich um, zeigt hinter sich auf das geschundene Haus und deutet auf das Wenige, das ihm blieb. Viel hat ihm das Meer nicht gelassen, ein paar schmutzige Stühle, Tische, Bänke, einen Koffer, etwas Geschirr, dies und das, nicht mehr als Sperrmüll. Sein Hund Flaffi legt sich neben den Stuhl und schaut die Hausgans an, der niemand einen Namen gegeben hat. An der Vorderseite des Hauses steht auf einer Tafel das Wort "Palmenklause". Gleich daneben das kleine Wohnhaus, direkt am Strand, dazu das Meer, die Palmen, man könnte es einen Traum nennen.
Die Deutschen kamen hierher zu ihm, tranken Bier, aßen Fisch mit Kartoffeln. Thailand, Sonne, Meer, alles gut und schön, doch eine Pellkartoffel bleibt eine Pellkartoffel. Alfred Kaiser ging dann von einem zum anderen, fragte mit seiner dunklen Stimme, die den Berliner Dialekt nicht verhehlt: schmeckt's? Wie ist euer Urlaub? Ging wieder in die Küche, wo seine thailändische Frau Nongrak mit sechs Leuten arbeitete. Sie brachten den Monikas und Ingrids, den Günthers und Manfreds ein bisschen Deutschland an den Tisch, hierher nach Bangtao auf die Ferieninsel Phuket.
Vor bald neun Jahren hat für ihn alles ganz klein angefangen in der Bucht von Bangtao. Sein Land, seine Frau, die zwei Töchter hatte er hinter sich gelassen, hatte Nongrak geheiratet, die Frau, die er Angela nennt. Sie ist die Mutter seiner kleinen Tochter Alina. Auch die Deutschen in der Palmenklause nannten sie Angela. An einer Palme hängt noch ein zerknittertes, gelbes Schild: "Riesen Fischplatte, 2 Personen, Garniert, Pellkartoffeln, 1 Tag Vorbestellung". Die Palmenklause war voll, die Geschäfte liefen endlich mal gut, und das sollte immer so weiter gehen. Er hat die Flaute nach dem 11. September, auch die nach dem Bombenanschlag auf Bali überstanden.
Auch die Zeit ging vorbei,
in der all die Deutschen nicht mehr nach Thailand fahren wollten, weil sie Angst vor Sars hatten. Immer ging es irgendwie, viel Geld braucht man nicht in Thailand, abbezahlt waren das Wohnhaus und das Restaurant, das mal ein kleiner Stand war. Aus dem Stand wurde eine Strandbude, aus der Bude ein Haus, Alfred Kaiser nannte es Palmenklause. Wenigstens muss er sie nicht abreißen lassen, die Klause, auch das Wohnhaus wird er wieder beziehen können. Irgendwann. Er lebt von Erspartem, eine Weile hält er noch durch. "Die Hauptsache ist, meine Frau und meine Tochter leben", sagt er endlich.
Ein großer, massiger Mann von 54 Jahren und breiten Händen ist er, ein weiches Gesicht schaut unter dem fleckigen, grauen Vollbart hervor, eine getönte Brille sitzt auf der breiten Nase. Als hätte er sich beim Strandspaziergang verlaufen und sich auf ein Trümmerfeld verirrt, so wirkt er, wenn er da so sitzt vor dem ausgeweideten Haus, mit seinem blauen, geblümten Hemd, das sich über dem Bauch spannt, mit den Badelatschen und der weiten Hose, die kurz unterhalb der Knie endet. "Ich war ja einkaufen", sagt er, "ich habe die Welle gar nicht gesehen." Lacht wieder. Warum das Lachen, Herr Kaiser?
Die Frage geht irgendwo auf dem Weg zu ihm verloren, er schaut aufs Meer. Der Ozean liegt ruhig und groß und schön vor ihm. Er ist dem Haus ein Stück näher gekommen, hat dem Land ein paar Meter abgetrotzt, den Sand zu sich genommen, hat nur wenige Palmen stehen lassen und die anderen über das Land gezerrt, hunderte von Metern weit, hinein in den kleinen Ort. Hat die mächtigen Stämme auf Betonwände und Autos geworfen, hat sie zusammen mit allem, was sich der Welle in den Weg stellte, zu einer gewaltigen Trümmerlawine verwandelt und den Ort verwüstet.
In Bangtao liegen Fischerboote wie gestrandete Wale auf Schutt und Stein, Häuser sind ineinander gedrückt und auf die Straße geschoben. Da liegt ein Kühlschrank, weiter hinten die leichteren Dinge, Plastikstühle, Wäscheständer. Am weitesten weg vom Wasser dann die kleinen Sachen, eine CD von Whitney Houston, ein geflochtenes Korbkästchen, eine Barbiepuppe. Sie schwimmt, Gesicht nach unten, in einem Salzsee, der da nicht hingehört. Darin Fische, aus dem Meer geworfen, von Fliegen übersät. Gestank. Die Flut tötete hier im Ort 20 Menschen, Alfred Kaiser kannte sechs von ihnen.
"Als mich Alina anrief, sagte: 'Komm nicht, komm nicht, das Wasser hat alles kaputt gemacht', dachte ich noch, sie spielt mir einen Streich", sagt Kaiser. Die Antwort auf die Frage: "Wie war das am 26. Dezember?", die hat er oft gegeben, Freunden, Verwandten und Neugierigen. Manchmal bricht ihm die Stimme.
Als er mit seinem Wagen den kleinen Weg zu seinem Haus fuhr, da war das Wasser schon wieder zurückgegangen, nur knöcheltief war es, er schaute zu seinem Haus, es stand. Erst dann sah er, dass nichts mehr zwischen den Mauern war. Das Wasser hat das meiste herausgewaschen. Seine Frau ist mit der Tochter losgerannt, als sie die erste Welle kommen sah, andere gingen ihr entgegen, den Fotoapparat in der Hand.
Er hat Zeit jetzt, viel zuviel.
Er sortiert seine Habe, wieder und wieder, Fernsehen bei den Freunden, die sie aufnahmen, die Kaisers. Oder er fährt mit dem Moped herum, was man so macht, um den Tag loszuwerden. "Ich merke erst jetzt, was ich mal hatte", sagt er, "Aufstehen um sechs, einkaufen, die Arbeit bis nachts um zwei...", schweigt, sagt: "...mir fehlt mein Leben." Er hört seinen Worten eine Weile hinterher, zeigt zur Terrasse, wo er immer saß. "In einem Jahr ist es wie am Tag vor der Welle", sagt er, "ganz bestimmt, nur die Leute müssen wieder kommen." Es klingt ein bisschen so, als wollte er es herbeireden.
Er sieht das Meer jetzt anders, und auf dem Stuhl saß er nicht mehr seitdem, da oben auf seinem Platz. "Das Meer war immer hier", sagt er. "Und der olle Planet dreht sich weiter." Lacht.