Lusio Tucco, Besitzer der Berghütte Rifugio Teodulo, muss sich dieser Tage die Frage stellen, auf welcher Seite er eigentlich steht. Auf der Schweizerischen oder der Italienischen? Grund hierfür ist der Theodulgletscher, in dessen Nähe sich die eigentlich auf italienischer Seite gelegene Hütte befindet. Der Gletscher schmilzt seit Jahrzehnten vor sich hin und hat die Landesgrenzen zwischen der Schweiz und Italien verrückt.
Die bisherige Grenzlinie verlief entlang einer Entwässungsscheide. Ein Punkt, an dem das Schmelzwasser auf beiden Seiten des Berges in Richtung des einen oder anderen Landes fließt. Die Berghütte Rifugio Teodulo befand sich zur Zeit ihrer Erbauung 1984 noch vollständig auf italienischem Gebiet. Doch wegen des schmelzenden Gletschers stehen nun zwei Drittel der Lodge inklusive der Mehrzahl der insgesamt 40 Betten und dem Restaurant auf der Südseite der Schweiz.
Gletscherschmelze eigentlich kein politisches Thema
Alain Wicht ist Chefgrenzbeamter der Schweizerischen Kartierungsbehörde Swisstopo und betreut die 7000 Grenzmarkierungen entlang der 1935 Kilometer langen Grenze der Binnenschweiz zu Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Liechtenstein. Zwischen 1973 und 2010 verlor der Theodulgletscher fast ein Viertel seiner Masse. Dadurch wurde das darunter liegende Gestein dem Eis ausgesetzt, die Wasserscheide verändert und die beiden Nachbarn gezwungen, einen 100 Meter langen Abschnitt ihrer Grenze neu zu ziehen. Ein Vorgang, der laut Wicht völlig normal ist und in der Regel ohne Politiker geregelt wird.
Jetzt, wo die kleine Berghütte involviert ist, wird die Sache allerdings kompliziert, denn das verleiht dem eigentlich vom Tourismus abgehängten Land "wirtschaftlichen Wert". Wichts italienische Amtskollegen lehnten eine Stellungnahme "aufgrund der komplexen internationalen Situation" ab.
Doch selbst für solche Fälle gibt es eine einfache Lösung, wie Jean-Philippe Amstein, ein ehemaliger Swisstopo-Chef, dem "Guardian" sagt. Die betroffenen Länder tauschen Grundstücke mit gleicher Fläche und gleichem Wert. Aber in diesem Fall sei "die Schweiz nicht daran interessiert, ein Stück Gletscher zu bekommen", sagt er, und "die Italiener sind nicht in der Lage, den Verlust an Schweizer Fläche zu kompensieren".
Grenze schon länger Streitthema zwischen Schweiz und Italien
Über den Grenzverlauf gab es bereits 2018 diplomatische Gespräche. Allerdings ging es damals um eine Seilbahnstation, die wenige Meter entfernt von dem weltweit größten Skigebiet errichtet werden sollte. 2021 einigten sich beide Parteien in Florenz. Die Details sind aber noch geheim und zwar so lange, bis die Schweizer Regierung das Ergebnis abgesegnet hat. Laut dem "Guardian" wird das nicht vor 2023 geschehen.
Gute Nachrichten gibt es indes trotzdem für den 51-jährigen Hausmeister der Berghütte. Das Refugium werde italienisch bleiben, weil der Besitzer immer italienisch war. "Das Menü ist italienisch, der Wein ist italienisch und die Steuern sind italienisch", sagt er.
Nur auf den Karten von Swisstopo bleibt das durchgezogene rosa Band der Schweizer Grenze vorerst eine gestrichelte Linie, wenn es an der Schutzhütte vorbeiführt.
Quelle: "The Guardian"