Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist in einem neuen Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising schwer belastet worden. Benedikt habe als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen, teilten die Gutachter am Donnerstag in München mit. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung "strikt", die Gutachter halten dies aber nicht für glaubwürdig, wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte
Ein ähnlicher Report war bereits für 2010 von der Kirche in Auftrag gegeben worden, er wurde allerdings nie veröffentlicht. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München, bevor Johannes Paul II. ihn nach Rom holte.
In zwei der Fälle, bei denen die Gutachter ein Fehlverhalten des damaligen Münchner Erzbischofs sehen, sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden. Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger "nicht erkennbar" gewesen.
Die Gutachter sind mittlerweile auch überzeugt, dass Ratzinger Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters Peter H. hatte, der 1980 aus dem Bistum Essen nach München kam. H. war als Pädophiler verurteilt und beging später im Erzbistum München weitere Missbrauchstaten.
Benedikt hat ausführlich Stellung genommen
Rechtsanwalt Martin Pusch sagte, Ratzinger habe bei der Erstellung des Gutachtens zunächst eine "anfängliche Abwehrhaltung" gezeigt. Diese habe er aber später aufgegeben und ausführlich schriftlich Stellung genommen.
In Auftrag gegeben hat die Studie der heutige Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhard Marx. Allerdings war er bei der Vorstellung des neuen Gutachtens nicht persönlich anwesend, womöglich weil die Gutachter auch ihm in ihrem Report Fehler in zwei Missbrauchsfällen vorwerfen. Im Frühjahr vergangenen Jahres hatte Marx dem heutigen Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, weil er laut eigenen Worten "Mitverantwortung für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs" tragen wollte. Doch Franziskus lehnte ab und forderte Marx dazu auf "sich der Krise auszusetzen". Marx will am Nachmittag eine Stellungnahme zu der Studie abgeben.
Kritiker werfen Bischöfen überall in Deutschland vor, nicht genug getan zu haben, um Kinder in der Kirche vor Missbrauchstätern zu schützen - oder sogar Fälle systematisch vertuscht zu haben. Erst im Herbst 2018 hatte die katholische Kirche die sogenannte MHG-Studie und damit Zahlen zu sexuellem Missbrauch öffentlich gemacht. Demnach sind bundesweit in den Personalakten von 1946 bis 2014 insgesamt 1670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Es gab 3677 Opfer. Im Jahr 2020 machten die Ordensgemeinschaften öffentlich, dass sich bei ihnen weitere 1412 Betroffene gemeldet haben. Aus Sicht einiger Experten und von Kirchenkritikern ist das aber nur die Spitze des Eisbergs.