Er überlebte 438 Tage auf See Was macht eigentlich ... José Salvador Alvarenga?

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José Salvador Alvarenga trieb über ein Jahr als Schiffbrüchiger im Pazifischen Ozean. Seine unglaubliche Geschichte machte ihn berühmt. Stern-Reporter Jan Christoph Wiechmann traf den Mann, der 438 Tage alleine auf einem kleinen Kutter überlebte.



Jan Christoph Wiechmann: "Was ist da passiert?"
José Alvarenga: "Hier hat mich ein Hai erwischt."
Wiechmann: "Und was machten die Vögel?"
Alvarenga: "Sie hackten hier und dort."


Alvarenga ist Fischer. Er stammt aus El Salvador. In seinem Blick hängt noch immer die Furcht, wenn er zurück ans Meer kommt. Wie überlebte er seine Odyssee?


Alvarenga: "Ich hab die Hoffnung nie verloren. Habe Gott gebeten, mir Kraft zu geben und Weisheit, damit ich diesen Tag erlebe, um meine Geschichte zu erzählen: wie man überlebt. Rohe Sachen zu essen, Blut und Dinge, die man im Wasser so findet."


Seit 15 Jahren fuhr Alvarenga zur See. Am 15 November 2012 begleitete ihn der junge, unerfahrene Bootsmaat Ezequiel Córdoba. Und an diesem Tag sollte so ziemlich alles gegen sie spielen. Ein defekter Bootsmotor, kein GPS. Kein Funk und ein Jahrhundertsturm, der sie immer weiter hinaustrieb. Nur einer überlebte.


Alvarenga: "Wir haben beide gekämpft, aber dann kam der Tag, als er den Kampf verlor und starb. Ich konnte ihm nicht helfen, mit Medizin oder so. Wir hatten viel gelitten. Zum Glück litt er im Moment des Todes nicht."


Gefangen in einem Boot, 8 Meter lang und ohne Kajüte. Rohe Vögel gehörten zu seiner Hauptnahrungsquelle.


Alvarenga: "Sie landeten auf meinem Kopf. Ich packte sie langsam, so von unten, nicht zu hastig."
Wiechmann: "Sie landeten auf deinem Kopf?"
Alvarenga: "Ja, auf meinem Kopf. Der Vogel weiß das nicht. Er denkt, ich sei ein Stück Holz. Ich blieb regungslos, nackt. Sie kamen mir nah, blieben an Deck, sie wissen nicht, dass ich ein Mensch bin, und so fange ich sie."


Immer wieder sah Alvarenga große Tanker, keine der Besatzungen bemerkte ihn. Doch er trotzte allen Rückschlägen.


Alvarenga: "Ich habe alles gegessen. Fische, Vögel, Schildkröten. Und zwar alle Teile. Alles roh. Augen. Leber, Niere, Krallen, Fingernägel."
Wiechmann: "Deine Fingernägel?"
Alvarenga: "Meine und auch die Krallen der Vögel."
Wiechmann: "Nicht gerade lecker?"
Alvarenga: "Nein, aber das macht man, um zu überleben."


Dann - endlich - erblickte er am 29. Januar 2014 Land. Tile Islet, eine von mehr als 1000 winzigen Inseln der Marshall Islands. Dort traf Alvarenga auf Ureinwohner, die sofort Hilfe riefen. Er hatte Parasiten in der Leber, weil er rohe Vögel gegessen hatte und litt  an Blutarmut. Doch er lebte.


Heute wohnt Alvarenga in Los Angeles. Er möchte seine Geschichte verkaufen. Hollywoods Drehbuchautoren könnten sie nicht besser schreiben, so unglaublich wie sie klingt. Doch alle Recherchen und Einschätzungen von Experten bestätigen, dass sie plausibel ist.
José Salvador Alvarenga kam in Seenot durch einen Sturm beim Fischen, driftete ab und überlebte 438 Tage lang auf dem Pazifik.

Wir erwischen Sie in Utah. Was machen Sie dort?

Ich gebe Survival-Training.

Wollen Mormonen wissen, wie man ein Jahr lang allein auf dem Meer überlebt?

Nicht unbedingt auf dem Meer. Sie wollen wissen, wie man in Extremsituationen allein in der Natur überlebt. In Utah, so habe ich erfahren, verirren sich viele in Schluchten und Wüsten.

Ist Survival auf dem Ozean nicht etwas ganz anderes als in der Wüste?

Klar gibt es Unterschiede. Ich habe überlebt, indem ich Quallen und kleine Haie gefangen habe. Aber auch an Land muss man sich am Sternenbild orientieren, Vögel per Hand fangen und eventuell seine eigenen Fußnägel verspeisen.

Wie fängt man Vögel mit der Hand?

Man bleibt völlig regungslos. Nähert sich ganz langsam von hinten. Dann packt man sie an den Füßen. Vor allem lernen die Teilnehmer meines Trainings aber, wie man im Angesicht des Todes mental überlebt.

© Foto: Giff Johnson/AFP

José Salvador Alvarenga

1977 in El Salvador geboren, ging er 2002 nach Mexiko, um dort als Fischer zu arbeiten. Am 17. November 2012 fuhr er aus Costa Azul hinaus aufs Meer; mit an Bord: Ezequiel Córdoba, 20, unerfahren. Sturm kam auf, ein berüchtigter Norteño, er dauerte fünf Tage. Das Boot wurde auf den Pazifik getrieben. Córdoba starb bald. Alvarenga war 438 Tage unterwegs, als seine Odyssee am 30. Januar 2014 auf den 10.000 Kilometer entfernten Marshallinseln endete (Foto): Er wurde per Boot in ein Krankenhaus gebracht, dürr und mit langer Mähne.

Dabei sind Sie selbst fast verrückt geworden auf Ihrer Odyssee.

Darum geht es. Wie behalte ich den Verstand in scheinbar ausweglosen Situationen? Niemals aufgeben. Selbstgespräche führen. Beten. Aus Knochen etwas basteln. Sich Tiere als Gefährten halten. Sterne zählen. Aus weichem Holz einen Brei machen. Mein Kompagnon an Bord – Córdoba – ist verrückt geworden und hat sich aufgegeben. Er starb schon nach einigen Wochen.

Wie geht es Ihnen, gut drei Jahre nach dieser sagenhaften Irrfahrt, 438 Tage allein in einem acht Meter langen Boot?

Etwas besser. Ich war in Therapie. Als ich zuletzt mit Ihnen sprach, hatte ich noch Halluzinationen. Das ist zurückgegangen. Albträume aber habe ich noch immer, fast jede Nacht. Ich wache schweißgebadet auf und denke, ich treibe auf dem Pazifik, Tausende Kilometer entfernt vom Land.

Zurück in dem Sturm?

Das auch. Wir wurden ja von den Wellen meterweit hochgerissen und klatschten wieder hin. Tagelang. Mussten ständig Wasser schippen, um nicht unterzugehen. Aber genauso schlimm war diese Ruhe auf dem weiten Pazifik. Die Sonne knallte unerbittlich von oben, kein Land war in Sicht, und wenn mal ein Schiff am Horizont auftauchte, fuhr es weiter, ohne mich in meinem kleinen Boot zu sehen. Das taucht in meinen Albträumen immer wieder auf.

Sind Sie heute ein anderer Mensch?

Absolut. Ich halte jeden Tag in Ehren, den ich auf der Welt bin. Ich trinke nicht mehr, mache keine wilden Partys, springe nicht mehr von einer Frau zur nächsten. Ich habe in einer Kirche sogar eine Predigt gehalten.

Wie ist das Leben daheim in El Salvador?

Gefährlich. Ich wohne mit meiner Tochter und meinen Eltern in Garita Palmera. Mein Land hat eine der höchsten Mordraten der Welt. Kriminelle Banden töten schon für ein paar Dollar. Sie jagen alle, von denen sie annehmen, dass sie Geld haben.

Also auch Sie.

Alle denken, dass ich durch den Verkauf der Buchrechte reich wurde, aber das ist nicht der Fall. Córdobas Familie wollte Geld, eine Million Dollar, völlig verrückt. Sie warfen mir Kannibalismus vor. Auch der Anwalt und der Agent wollen Geld. Und der Hollywoodfilm ist noch nicht mal gemacht.

Wann ist es so weit?

Ach je, Hollywood! Das dauert manchmal zehn Jahre, hat man mir gesagt. Aber im nächsten Jahr ist hoffentlich Drehbeginn.

Fahren Sie noch raus zum Fischen?

Nein, noch nicht ein einziges Mal. Alles – nur das nicht.

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Die unglaubliche Odyssee des schiffbrüchigen Alvarenga

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