Einer der Gründe, warum ich Sie jede Woche an dieser Stelle zutexten darf, ist gerade 90 geworden: Wolf Schneider, der als langjähriger Leiter der Henri-Nannen-Schule im Lauf der Zeit gut 300 Journalistenschüler getriezt hat, unter anderem mich. Was haben wir die Fäuste geschüttelt gegen den Mann! Wie haben wir uns dagegen gesträubt, dass er uns das Verquaste auszutreiben suchte, das Bürokratendeutsch, die Adjektive!
Der Treibstoff dieser Ausbildung war oft blanker Schülertrotz: dass man's kann, dass man’s besser weiß, dass man den verdammten Berserker - so bezeichnet Schneider sich selbst - halbwegs überlebt. Am Ende hatte er gewonnen, und wir waren die Sieger: kaum eine deutsche Redaktion, in der nicht irgendwo ein Schneider-Zögling hockt, oft an exponierter Stelle. Wenn also dieser Tage überall Geburtstags-Interviews und Rezensionen seiner Autobiografie "Hottentottenstottertrottel" erscheinen (die ich nachdrücklich empfehle, vor allem für den leserfreundlichen Einfall, dass man sich nicht erst durch 20 Jahre Kindheit und Jugend quälen muss, bevor es interessant wird), dann meist verfasst von Ehemaligen, die dem Meister heute Kränze flechten - mit mehr oder minder gut versteckten Dornen.
Tief drinnen sind wir alle Würstchen
Denn fast immer geht es dabei auch um Schneiders korrosionsgeschütztes Selbstbewusstsein. In der "Welt am Sonntag" wurde er unter der Überschrift "Mein Gott, ich kann so viel" befragt, warum er so gern den Kotzbrocken gebe, ob er Selbstzweifel kenne ("Nein. An mir zu zweifeln ist mir mein Leben lang nicht eingefallen. Die anderen sind die Idioten"), ob das Streben nach Höchstleistung möglicherweise Kompensation einer Schwäche sei. Interessant daran ist nicht Schneiders Antwort ("Ich kenne mein Selbst so wenig wie Sie das Ihre. Es ist mir auch völlig egal"), sondern das rührende Bemühen, den Kerl doch noch kleinzukriegen.
Ihn doch noch zu einem Eingeständnis von Verfehlung und Versagen zu nötigen, zu Bescheidenheit und Selbstkritik. Wäre doch gelacht, wenn der nicht auch eine Sollbruchstelle hätte! Daraus spricht die Grundüberzeugung unserer überpsychologisierten Zeit: Tief drinnen sind wir alle Würstchen, auch wenn wir uns als Festtagsbraten geben. Nö. Der nicht. Fast schon provokant, wie einverstanden er mit sich ist. Und da wird es spannend, denn sich selber super zu finden, so dreist und unverdrossen: Das geht gar nicht. Das findet man zutiefst unsympathisch.
Die nölige Stimme in uns, die uns einhämmert, wir seien nicht gut
Dabei ist es doch eigentlich verrückt, oder? Wir setzen alles daran, jenen paradiesischen Zustand zu erreichen, in dem endlich die kleine nölige Stimme in uns schweigt, die uns einhämmert, wir seien nicht gut genug für diese Welt, für dieses Leben. Macht uns aber einer vor, dass man ohne diese Stimme recht gut und sogar besser über die Runden kommt, hat er verschissen.
Alle Glücksratgeber in Büchern und Zeitschriften lassen diesen einen Punkt aus: Was, wenn man sie erreicht hat, die Zufriedenheit mit sich? Darf man dann noch unter die Leute? Es gibt eine interessante psychologische Übung, bei der Menschen gebeten werden, ausschließlich Positives über sich zu sagen. Während Selbstbeschimpfungen flüssig über die Lippen gehen, verstummt in diesem Fall nahezu jeder: "Ich bin ... öhm ..." Das Gute an uns selbst wahrzunehmen, geschweige denn auszusprechen - irgendwer hat's uns ausgetrieben. Eine Scheibe Schneider könnten wir uns also alle abschneiden. Muss ja nicht sehr dick sein.
Und deshalb: Herzlichen Glückwunsch, Wolf Schneider. Es war nie langweilig mit Ihnen. Und danke, dass Sie selbst mit 90 noch so vorbildlich enervierend sind.
Die Kolumne ...
... von Meike Winnemuth finden Sie immer schon donnerstags im aktuellen stern Dieser Text wurde im Heft Nr. 21 veröffentlicht.