Meike Winnemuth
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Das findest du leicht, das siehst du schon. Man ist nie als Erster da“, sagte eine Insulanerin, als ich fragte, an welcher Düne genau denn jetzt das Dünensingen stattfindet. Richtig, man ist eher als 137. da. Und dann kommen immer noch welche. Und noch welche. Und das, obwohl hinter der Düne ein breiter Strand mit allerschönstem Ferienwetter lockt.
Vom Spiekerooger Dünensingen hatte ich schon im Februar gehört, jetzt wollte ich es miterleben. Die Geschichte geht so: 1965 stellte sich ein vollmähniger Student namens Eckart Strate mit seiner Gitarre in die Landschaft, sang alles Mögliche von Cat Stevens bis Franz Josef Degenhardt und animierte Zuhörer zum Mitsingen. Das war so erfolgreich, dass er von der Kurverwaltung dafür vier Mark bekam und Übernachtungserlaubnis in der riesigen Halle, die im Winter die Strandkörbe birgt – ohne Wasser und Strom, geduscht wurde am Strand.
Jahr um Jahr kam er wieder, auch als er schon längst nicht mehr die vier Mark brauchte, sondern an einem Bremer Gymnasium Französisch und Sport unterrichtete. Vier Wochen seiner Sommerferien verbrachte Strate seitdem auf Spiekeroog, und immer mehr Leute buchten ihren Urlaub so, dass sie viermal die Woche mit ihm singen konnten.
Zum Warmsingen ein Kanon
Inzwischen ist er 73 und gibt auch im 50. Jahr, immer noch braun gebrannt, in kurzen Hosen und mit kräftiger Stimme, den Ton an. Der Chor: Leute in Badeanzügen und Shorts und mit Sonnenhütchen, auf Picknickdecken und Handtüchern, mit Kindern auf dem Schoß. Zum Warmsingen einen kleinen Kanon von Henry Purcell aus dem 17. Jahrhundert.
Oh Gott, denke ich, wie kann ich mich hier unauffällig wieder verdrücken? Ich werde untergehen wie ein Stein. Normalerweise gehöre ich nämlich zu denjenigen, die gerade mal „Happy Birthday“ mitsingen, wenn ein Kollege Geburtstag hat, ansonsten aber in der Kirche lieber stumm bleiben und bestenfalls die Lippen bewegen.
Verrückterweise schafft es Strate, dass ich nach zehn Minuten einen sechsstimmigen Kanon eines britischen Kinderlieds („Kleiner Tommy Tinker / saß auf einem Klinker …“) mitsinge, als ob ich das schon seit Jahren machte. Strate lässt Altersgruppen gegeneinandersingen oder Bundesländer (1. Stimme: Bayern und Baden-Württemberg, 2. Stimme: Nordrhein-Westfalen, 3. Stimme: der Rest), übt französische Chansons und finnische Neukompositionen ein, und am Ende singen wir alle dreistimmig einen Kanon von Ludwig van Beethoven. Unfassbar: Eine Stunde, und ich bin eine Sängerin.
Musik bringt Trost
Genau um dieses Erlebnis – dass man immer mehr kann, als man denkt – geht es Strate, erzählt er hinterher beim Kaffee. Darum, Leute zu ermutigen und von sich selbst zu überraschen, ihnen den Trost und die Entspannung (Strate sagt: „die Entlastung“) durch Musik nahezubringen, ein Gemeinschaftserlebnis zu bescheren. Also all das, was früher die Kirche erledigt hat und wofür es heute eine immer größere Bedarfslücke gibt? Strate lacht und sagt: „Neulich hat mir einer gesagt: Eigentlich sollte ich zu einem Therapiewochenende, aber ich komme lieber zum Singen.“
Wie gut, dass es immer noch und immer wieder Leute wie Strate gibt, dachte ich. Bekloppte, die einfach was anfangen und was machen und andere Menschen damit anstecken. Leute, die das Licht anknipsen. Inzwischen singt die dritte Urlaubergeneration mit ihm. Unter den Mitsängern war letzte Woche auch sein Sohn Johannes, Sänger der Rockband Revolverheld, auf dem Schoß Enkel Emil. Nach dem Singen lassen sich verlegene Mädchen mit Johannes knipsen – und mindestens genauso viele mit seinem Vater.
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