Nach den Atomunfällen in Japan gibt es nun vor allem die große Sorge, dass die radioaktive Wolke aus dem 250 Kilometer nördlich gelegenen zerstörten Atomkraftwerk in Fukushima Richtung Tokio treibt. Für den Großraum Tokio mit seinen rund 35 Millionen Menschen könnte dies in einer Katastrophe enden. Viele Menschen versuchen bereits, die Hauptstadt Richtung Süden zu verlassen. In der Frage, ob solch eine Megastadt im Ernstfall überhaupt evakuiert werden könnte, sind sich jedoch deutsche Experten einig: Es ist unmöglich.
"Eine Evakuierung Tokios ist logistisch nicht leistbar", sagt Gerold Reichenbach, Vorsitzender des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge, stern.de. Diese Masse an Menschen alle in kurzen Zeiträumen aus dem Ballungszentrum zu holen, dafür seien schon allein die Straßen nicht ausgelegt. Zum Vergleich: In Tschernobyl habe man nach der Atomkatastrophe 350.000 Menschen aus der Großregion und einzelnen Dörfern über einen längeren Zeitraum in Sicherheit gebracht. "Diesmal wären es hundert Mal so viele", sagt der Katastrophenschutz-Experte.
Evakuierung wäre "völlig verantwortungslos"
Ähnlich sieht es Martin Skutella vom DFG-Forschungszentrum Matheon in Berlin. Die Evakuierung würde wegen der nicht dafür ausgelegten Infrastruktur Wochen dauern und müsste in einer bestimmten Reihenfolge, etwa Stadtteil für Stadtteil, ablaufen. Skutella hält eine Evakuierung Tokios für "völlig verantwortungslos" - sie würde "im totalen Chaos" enden. Der Mathematiker beschäftigt sich seit Jahren mit der Optimierung von Evakuierungen und Fluchtströmen. Ein grundlegendes Problem sei zudem die Unterbringung so vieler Menschen. Die Evakuierten benötigen nicht nur Unterkünfte, sondern auch Krankenhäuser, Schulen und Verpflegung.
"Das ist eine riesige logistische Aufgabe", betont Reichenbach. Auch er hält lediglich eine Teilevakuierung einzelner, besonders betroffener Stadtteile für möglich. "Die entscheidende Frage dabei ist, ob es den Behörden gelingt, das Vertrauen der Bevölkerung aufrecht zu erhalten", so Reichenbach zu stern.de. Die Betroffenen müssten immer das Gefühl haben, offen und zuverlässig informiert zu werden. "Sonst kann eine schlechte Krisenkommunikation die Katastrophe in der Katastrophe auslösen." Beispiel New Orleans 2005: Nach dem Hurrikan Katrina seien damals 1,2 Millionen Menschen aus der Stadt evakuiert worden. Doch das Herausbringen verlief alles andere als friedlich: Es kam zu Plünderungen und teils tödlicher Gewalt.