"Eclipse Virgin" steht auf dem Button, den mir Hillary aus Kalifornien geschenkt hat. Sonnenfinsternis-Jungfrau. Das stimmt zwar nicht ganz. Dies ist nicht mein erstes Mal. Ich habe schon zwei totale Sonnenfinsternissen gesehen: 1999 in Karlsruhe und in der chilenischen Atacama-Wüste im Juli 2019.
Aber damit liege ich immer noch deutlich hinter den "Eclipse Chasern", den Jägern der totalen (Sonnen-)Finsternis. Menschen aus aller Welt, die versuchen, bei möglichst jeder totalen Sonnenfinsternis dabei zu sein, egal, wo sie stattfindet.
Leute wie Rainer Kresken. Hauptberuflich ist er Raumfahrtingenieur bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA und erforscht Kleinplaneten, die einmal auf die Erde plumpsen könnten. Der 63-Jährige aus Darmstadt war schon in China, Sibirien, Sambia und Venezuela, um eine totale Sonnenfinsternis zu sehen. Insgesamt bringt er es auf zwölf Mal.
Rainer hat mich nach Carbondale mitgenommen, einem kleinen Ort, irgendwo in Illinois. Der zählt normalerweise 25.000 Einwohner und ist keine Touristenattraktion. Doch jetzt sind die Hotels ausgebucht, wird für ein noch übrig gebliebenes Zimmer in einem leicht heruntergekommenen Motel die astronomische Summe von 400 Dollar pro Nacht verlangt. Der Grund: Carbondale liegt im Totalitätskorridor, jenem Streifen, in dem man die totale Verdunkelung der Sonne sehen kann.
Bei einer totalen Sonnenfinsternis schiebt sich der Mond vor die Sonne, sodass kein Licht mehr von der Sonnenoberfläche zur Erde gelangt. Das passiert etwa alle zwei Jahre, irgendwo auf der Welt. In Deutschland konnte man zuletzt 1999 eine totale Sonnenfinsternis sehen.
Eine Kleinstadt in Illinois wird zum besonderen Ort
Carbondale ist noch aus anderem Grund besonders. Schon 2017 konnte man von hier aus eine totale Sonnenfinsternis beobachten, jetzt erneut. Das geschieht extrem selten. Und so sind Sofi-Begeisterte von überall her angereist, um hier das Naturspektakel zu erleben.
Seit Wochen ist der Ort im Ausnahmezustand. Fast alle Geschäfte werben mit "Eclipse"-Sonderangeboten. Die Clubs veranstalten "Eclipse"-Partys. An der örtlichen Universität werden Vorträge zur Sonnenfinsternis gehalten, in den Gottesdiensten vor dem großen Tag dafür gebetet, dass keine Unfälle geschehen.
Wenn die Sonne verschwindet – ein faszinierendes Himmelsschauspiel

Natürlich war Rainer Kresken auch schon 2017 in Carbondale dabei. Mit Hillary, einer ehemaligen Bankberaterin, und ihrem Mann Bill, der ursprünglich aus der Gegend stammt. Die beiden Amerikaner und der deutsche Raumfahrtingenieur haben sich 1991 am Strand von La Paz, Mexiko, kennengelernt. Für alle Drei war es die erste Sonnenfinsternis. Seither sind sie befreundet.
Vier totale Sonnenfinsternisse haben sie seither gemeinsam gesehen. Dieses soll die fünfte werden. Doch dafür gibt es eine Voraussetzung: Der Himmel muss wolkenlos sein.
Am großen Tag checkt Rainer Kresken deshalb jede halbe Stunde den Wetterbericht. Es sieht gut aus. Anders als in Texas, das auch im Totalitätskorridor liegt und deshalb viele Touristen angezogen hat. Doch für dort ist schlechtes Wetter angesagt.
Die wichtigste Voraussetzung für das Spektakel
Klar muss der Himmel sein, damit man die drei Phasen der Sonnenfinsternis optimal sehen kann. In der ersten bedeckt der Mond nur einen Teil der Sonne. Das sieht ein bisschen so aus, als ob jemand in die Sonne gebissen hätte. Wer in dieser Phase ohne spezielle Schutzbrille in die Sonne schaut, kann sein Augenlicht verlieren. In der zweiten Phase hat sich der Mond komplett vor die Sonnenscheibe geschoben. Um die Sonne scheint dann ein strahlender Ring zu liegen. Es ist das leuchtendes Plasma in der Sonnencorona, einer Hülle aus Partikeln, die die Sonne umgibt. Dieser Moment, der Höhepunkt jeder Sonnenfinsternis, dauert unterschiedlich lang, meist wenige Minuten. In dieser Zeit kann man mit bloßem Auge in die Sonne sehen. Danach beginnt die dritte Phase, in der der Mond nach und nach die Sicht auf die Sonne wieder frei gibt. Sie dauert wie die erste Phase etwas über eine Stunde.
Wie die Sonnenfinsternis Leben rettet
Wie jedes ungewöhnliche Naturspektakel ist auch die Sonnenfinsternis ein Ereignis, das nicht nur Astronomen, sondern auch Philosophen und die Kunst über die Jahrhunderte hinweg beschäftigt und inspiriert hat. Ihre Beschreibung als Zeichen des Himmels findet sich schon beim griechischen Philosophen Thales (lebte wahrscheinlich von 624/23 bis zwischen 548 und 544 vor Christus). Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain verarbeitete das Phänomen in seinem Buch "Ein Yankee am Hof des Königs Artus". Sein Held gerät in Gefangenschaft und entgeht einer Hinrichtung, weil er eine Sonnenfinsternis voraussagt und damit seine Häscher so tief beeindruckt, dass sie ihn freilassen.
Mit diesem Trick käme man im aufgeklärten 21. Jahrhundert wohl nicht mehr durch. Aber noch immer ist das Ereignis für viele spirituell aufgeladen. Etwa für die Navajo, der zweitgrößten Ureinwohner-Gruppierung in den USA. In ihrer Tradition ist die Sonnenfinsternis eine heilige Zeit, in der die Sonne "wieder geboren" wird. Deshalb darf dann weder gegessen, noch getrunken, noch geschlafen werden. Auch sehen die Regeln vor, dass man währenddessen zuhause bleibt und nicht gen Himmel schaut.
Das käme für Rainer Kresken nicht infrage. Zehn Stunden im Flieger und drei weitere mit dem Auto haben er und seine Frau Bettina, eine Meeresbiologin, zurückgelegt, nur um die Sonnenfinsternis mit den amerikanischen Freunden zu sehen.
Und dann ist es soweit
Um 12.42 Uhr Ortszeit verändert sich die Sonne am rechten unteren Rand. Als hätte der Mond ein Stückchen abgebissen. Immer größer wird der Happen, immer schmaler die Sonne, die erst wie ein Halbmond, dann wie ein Viertelmond aussieht.
Wir stehen auf dem Privatgrundstück eines einstigen Schulkameraden von Bill. Familie und Nachbarn sind gekommen, aber auch Freunde aus anderen Bundesstaaten. Seine Schwiegertochter hat einen mannsgroßen Pappaufsteller mitgebracht, der den früheren US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders in einer berühmt gewordenen Sitzpose zeigt. Sie hat ihm eine Sonnenfinsternisbrille verpasst. Der Grill wird angeworfen, es herrscht Volksfeststimmung.

Um 13.49 Uhr wird es dämmrig. Die Schatten werden schärfer. Die Temperatur fällt. Irritierte Vögel suchen Schlafplätze. Die Frösche des benachbarten Tümpels beginnen mit ihrem Nachtkonzert. Um 13.58 zählt Rainer Kresken den Countdown. Hillary holt Champagner und Bier der Marke "Elysian Space Dust" aus der Kühltasche. Eine Minute später hat der Mond die Sonne komplett verdeckt. Vier Minuten und acht Sekunden lang wird sie zu einem schwarzen Kreis mit Strahlenkranz.
Es ist ein Moment mit besonderer Magie. Überwältigend schön und ein bisschen gespenstisch. Es lässt erahnen, was wäre, wenn die Sonne nicht mehr wäre.
Vier Minuten später blitzt sie wieder hinter dem Mond hervor. Die totale Finsternis ist gebannt.
Schwer lässt sich in Worte fassen, was man gerade erlebt hat. Der österreichische Dichter Adalbert Stifter hat es einmal versucht. Am 8. Juli 1842 beobachtete er eine totale Sonnenfinsternis. In einem langen Text versuchte er anschließend zusammenzufassen, was er dabei empfand. "Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so erschüttert, von Schauer und Erhabenheit so erschüttert, wie in diesen zwei Minuten", schrieb Stifter: "Es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden." Und weiter: "Wie heilig, wie unbegreiflich und wie furchtbar ist jenes Ding, das uns stets umflutet, das wir seelenlos genießen und das unseren Erdball mit solchen Schaudern zittern macht, wenn es sich entzieht, das Licht, wenn es sich nur kurz entzieht."
Ein Sofi-Date in zwei Jahren
In Illinois geht es nicht ganz so poetisch zu. Aber auch hier, unter den "Eclipse Watchern", herrscht Euphorie. Menschen umarmen sich, einer verteilt Buttons mit der Aufschrift "I blacked out in Carbondale" und dem Datum, ein Wortspiel. Entspannt schaut man zu, wie die Sonne allmählich wieder an Volumen zu gewinnen scheint.
Eine Stunde später ist alles vorbei. 20 Jahre müsste man warten, um die nächste totale Sonnenfinsternis in den USA zu erleben, an anderem Ort. In Deutschland hätte ich zu Lebzeiten gar keine Chance mehr.
Aber Rainer Kresken hat gute Nachrichten. Die nächste totale Sonnenfinsternis dieser Art wird man in rund zwei Jahren verfolgen können. Wenn man in Grönland, Island, Portugal oder Nordspanien ist. Und einen Himmel ohne Wolken hat.
Ich habe jetzt ein Date für den 12. August 2026. Mit Hillary, Bill, Bettina und Rainer. Ich bin zu einer Jägerin der totalen Finsternis geworden.