Zweiter Weltkrieg "Lost German Girl" – das Mysterium um eine geschlagene Frau

Auf dem Film erkennt man, dass die Frau kaum noch sprechen kann.
Auf dem Film erkennt man, dass die Frau kaum noch sprechen kann.
© Commons
Im Mai 1945 taumelte eine verletzte Frau auf US-Captain Oren W. Haglund zu. Sie wurde zu einem Sinnbild des Leidens, seit Jahren versucht man sie zu identifizieren.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges fluteten die verbliebenen deutschen Truppen aus dem Osten in Richtung der US-Armee. Hier versprachen sie sich eine bessere Behandlung als bei einer Kapitulation gegenüber der Roten Armee. Die Verbände, die sich in der heutigen Tschechischen Republik befanden, waren zudem noch relativ intakt. Die Schwerpunkte der letzten sowjetischen Offensiven nach Berlin oder Wien waren an ihnen vorübergegangen.

Auf Kamera gebannt

An vielen Orten nahmen die Kamera-Teams der Amerikaner diese Flut auf. Teilweise waren es zerlumpte und verletzte Gestalten, die sich mit Mühe über die Linien der Einflusszonen schleppten. Andere Konvois erreichten die US-Soldaten in bester Feierlaune. Die Pkw voller Offiziere mit "Damenbegleitung" – allesamt nicht ganz nüchtern, soweit man das anhand der Bilder beurteilen kann.

Captain Oren W. Haglund nahm eine ganz andere Begegnung mit seiner Kamera auf. Er befand sich am 8. Mai 1945 auf einer Straße in Richtung Pilsen, 78 Kilometer von Prag entfernt. Zu Beginn zeigen die Aufnahmen gefangene Deutsche, wie sie von US-Truppen versorgt werden.

Weiter auf der Straße kommen dann Truppen, die sich eben ergeben. Darunter Ost-Europäer, die auf deutscher Seite kämpften. Als er noch weiter fährt, tauchen plötzlich deutsche SS-Männer auf. Verletzt und verstümmelt liegen sie am Wegesrand.

Truppen aus Prag 

Wie es dazu kam, dazu gibt es verschiedene Erklärungen. Eine Theorie sagt, sie wurden von Partisanen niedergemacht, nachdem sie ihre Waffen niedergelegt hatten. Eine andere Erklärung ist, dass es zu einem Tumult kam, als die SS-Soldaten bemerkten, dass sie von den anderen getrennt werden sollten. Daraufhin sollen US-Wachen geschossen haben. Aber nicht wegen der Toten und Sterbenden wurde die Filmrolle berühmt. Kurze Zeit später taumelte Haglund eine junge Frau in der Allee vor die Linse.

Die mysteriöse Frau 

Blond, gekleidet in eine unförmige Uniform und offenbar verletzt. Man sieht ihr zerschlagenes Gesicht, wie sie bittend die Hände faltet und in die Kamera blickt. Und sich dann von der Kamera abwendet. Seit 2008 lässt das mysteriöse "Lost German Girl" in der Nähe von Pilsen das Netz nicht los. In einem Forum auf einem Portal zum Zweiten Weltkrieg versucht man seitdem der mysteriösen Frau ihr Geheimnis zu entreißen. Doch während das Forum über die Achsenmächte bereits viele Personen identifizieren konnte oder zumindest plausible Zuordnungen herstellen konnte, gelang das hier auf 150 Seiten und mit Tausenden von Beiträgen nicht. Das "Lost German Girl" bleibt rätselhaft, sie taucht nur einmal kurz in diesem Schnipsel auf und verschwindet dann wieder im Vergessen.

Sicher ist, dass sie zusammen mit den deutschen Truppen floh. Aber ob als Militärhelferin, Sanitäterin, als Geliebte oder einfach als sogenannte Volksdeutsche lässt sich kaum sagen. Auf der Film-Karte wird sie als "SS-Girl" bezeichnet. Es ist aber nicht klar, ob das eine belegte Information ist, oder nur eine Zuschreibung, eben weil das Mädchen bei den SS-Soldaten angetroffen wurde. Ihre Uniform gibt keinen Aufschluss über ihre Einheit. Angesichts der gewaltigen Hose ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Uniform vermutlich gar nicht ihre eigene Garderobe war. Sicher ist, sie wurde misshandelt und ins Gesicht geschlagen.

Schön, aber erfunden 

Die schlüssigste Geschichte über die Frau war zu "schön", um wahr zu sein. In ihr wird das Schicksal zweier Frauen geschildert, die einer Bande in die Hände fallen. Das Opfer der einen habe der anderen – dem "Lost German Girl" – die Flucht ermöglicht und sie vor dem sicheren Tod gerettet. Das liest sich schlüssig, ist aber zu ausformuliert, um wirklich wahr zu sein. Bei der Schilderung handelt es sich um eine Übersetzung einer fiktionalen Geschichte, die sich von dem Film inspirieren ließ.

Ein anderer Hinweis deutet darauf hin, dass das "Lost German Girl" Lara oder Lore Bauer heißen könnte. Diese Bauer (1921–1994) soll Mitglied im Bund Deutscher Mädel gewesen sein und wurde zur Helferin der deutschen Luftwaffe ausgebildet. Fotos von Bauer haben Ähnlichkeiten mit der Frau auf der Straße bei Pilsen, aber es gab auch Abweichungen. Zudem trug sie nicht die Uniform der Helferin. Die angegebenen, biografischen Daten ließen sich nicht verifizieren. Schlimmer noch, sie scheinen schlicht falsch zu sein. Auf dem Film hält sie ein Kartenspiel in der Hand, vielleicht ist es aber auch ein Ausweis der Deutschen Arbeitsfront.

Lost German Girl auf der Landstraße 10 Kilometer vor Pilsen.
Lost German Girl auf der Landstraße 10 Kilometer vor Pilsen.
© Commons

Ikonografische Aufnahmen 

Gerade wegen ihrer Anonymität wurde "Lost German Girl" zu einem Sinnbild des Leidens der Frauen im Zweiten Weltkrieg. Und natürlich erregte die Aufnahme auch Widerspruch. Wie konnte eine Frau aus dem "Tätervolk" ein Opfer sein? Die Antwort ist einfach: "Lost German Girl" wurde durch die Aufnahme zum Sinnbild. Hätte Haglund nicht die Kamera auf sie gerichtet, hätte niemand von ihr Notiz genommen. Und es sind nicht irgendwelche Aufnahmen, es sind Ikonen der Reportage. So wie das Bild des Jungen mit erhobenen Händen im Warschauer Getto heraussticht, die verzweifelten Frauen, die ihre Angehörigen an der Kertsch unter den gefrorenen Leichen suchen, oder der englische Knabe, der mit seinem Teddy vor einem Schutthaufen sitzt, der eben noch sein Haus gewesen ist.

Zwei Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg: Das linke zeigt einen Atompilz, das rechte Menschen vor Ruine
Hiroshima nach der Atombombenexplosion am 6. August 1945.
© Commons
Hiroshima nach der Atombombe: Eindringliche Archivaufnahmen zeigen die Stadt in Schutt und Asche

Haglund zeigt die Frau nicht allein als Opfer, trotz ihrer Verletzungen, und ihrer kraftlos flehenden Geste zeigt Haglund eine schöne Frau. Die verletzt ist und beschädigt, aber eben nicht gebrochen, der man ihren Willen und ihren Stolz nicht ganz nehmen konnte. Haglund zeigt nicht den "Feind", die Kamera wahrt den Respekt vor der wunden Frau. Dieser Moment zeigt allein die Unmenschlichkeit des Krieges. In der letzten Sequenz sitzt sie zwischen den Soldaten im Gras, kühlt sich die aufgeschlagenen Brauen mit einem Tuch und da lächelt ihr verkniffener Mund ein wenig dem Kameramann zu, dessen Anwesenheit Sicherheit versprach. Und dann verschwand "Lost German Girl" wieder aus der Geschichte.

Weltweit bekannt wurde sie später durch die Dokumentation "The World at War" von 1973-1974. Seitdem wird das Material immer wieder verwendet.

PRODUKTE & TIPPS