Aufschieberitis Morgen - ganz sicher

  • von Sylvie-Sophie Schindler
Wer unter Prokrastination leidet, schiebt Wichtiges auf, wo es nur geht
Wer unter Prokrastination leidet, schiebt Wichtiges auf, wo es nur geht
© Colourbox
Wer Wichtiges wieder und wieder aufschiebt, hört oft: "Reiß dich zusammen." Doch Menschen, die unter Prokrastination leiden, sind nicht einfach nur faul.

In der Regel meldet man sich im Fitnessstudio an, um ein paar Pfunde loszuwerden, um seinen Körper zu stählen, um in Form zu bleiben. Solche Gründe eben. Bei Nina Holzner (Name von der Redaktion geändert) aber war es anders. Sie schwitzte regelmäßig auf dem Laufband, um dem zu entgehen, was zu Hause wartete: ihre Diplomarbeit.

"Eigentlich sind Fitnessstudios nicht mein Fall, aber als mir klar wurde, dass ich mich dann nicht an den Schreibtisch setzen muss, habe ich mich einfach angemeldet", erzählt die 26-Jährige. "So hatte ich immer eine gute Ausrede." Wobei die Studentin um solche nicht gerade verlegen war. Als sie beispielsweise über dem ersten Kapitel saß, das dringend geschrieben werden musste, packte sie sich ihren Wäschekorb und bügelte stattdessen stundenlang. "Ich hasse Bügeln", sagt sie. Aber als Vermeidungsstrategie war die ungeliebte Hausarbeit höchst willkommen. Denn Nina Holzner gehört zu den Menschen, die Wichtiges aufschieben, wo und wie es nur geht, und dabei höchst erfinderisch sind. Experten haben einen Begriff dafür: Prokrastination.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Das Phänomen findet sich hierzulande bei mindestens acht Millionen Menschen: Untersuchungen an der Wilhelms-Universität Münster legen nahe, dass es deutschlandweit zehn bis fünfzehn Prozent chronische Prokrastinierer gibt. Klar ist: Nicht jede Aufschieberei ist gleich bedenklich. Sicher ist es jedem schon einmal passiert, dass er Unangenehmes gerade noch auf den letzten Drücker erledigt hat. Oder dass er einfach nicht in die Gänge kam, um das durchzuziehen, was er sich vorgenommen hatte - zum Beispiel beim Thema Neujahrsvorsätze. Hier sind es allerdings oft andere Faktoren, die es uns so schwer machen, den inneren Schweinehund zu überwinden.

Bei der Prokrastination aber, die man salopp als Aufschieberitis übersetzen könnte, handelt es sich oft um eine massive Störung der Selbststeuerung. Die Betroffenen leiden extrem. "Ich hatte permanent ein schlechtes Gewissen und machte mir Vorwürfe", sagt Nina Holzner. "Ist ja nicht so, dass ich mich mit dem Aufschieben wohl gefühlt habe. Wenn ich an den See gefahren bin, statt an meiner Arbeit weiterzuschreiben, konnte ich keine Sekunde genießen." Sie habe sich selbst nicht verstanden, sich verzweifelt gefragt: "Warum mache ich das immer wieder? Was stimmt mit mir nicht?" Schließlich wandte sie sich an die Prokrastinationsambulanz der Wilhelms-Universität Münster. Und bekam Hilfe durch ein achtwöchiges Lerntraining, das der Psychologe Fred Rist mit seinen Mitarbeitern entwickelt hat. Täglich finden dabei mehrstündige Sitzungen in Kleingruppen statt.

Hartnäckige Aufschieberitis

Damit gehören die Münsteraner deutschlandweit zu den Pionieren. Hierzulande ist Prokrastination nur wenig erforscht, in den Diagnosehandbüchern DSM-IV und ICD-10 wird sie noch nicht als eigenständige Störung beschrieben. Doch für Rist ist klar: "Prokrastinieren ist nicht einfach eine schlechte Angewohnheit, die durch Ratgebertipps aus der Welt zu schaffen ist." Oft würden Betroffene Sätze hören wie "Reiß Dich zusammen". Doch damit sei nicht geholfen. "Prokrastinierer sind nicht faul, auch wenn viele ihnen das vorwerfen", so der Mediziner. Während sich der Faule im Grunde "bloß" überwinden muss, schaffen es Prokrastinierer nicht, ihren Widerwillen gegen dringend zu erledigende Tätigkeiten mit bewusster Anstrengung auszuschalten. Sie würden sich zwar immer wieder aufs Neue vornehmen, das gesetzte Ziel zu erreichen. Doch oft gehe das Aufschieben schon beim Aufwachen los - wenn x-Mal auf die Schlummertaste gedrückt wird statt sich an die Arbeit zu machen oder wenn man vor der zu erledigenden Arbeit stundenlang im Internet surft.

Das typische Aufschiebe-Verhalten wurde über Jahre eingeübt, meist schon seit der Kindheit. "Allein kommen sie selten da raus", so Rist. Ursachen können Versagensängste kombiniert mit mangelnder Frustrationstoleranz sein. Das heißt, man glaubt, die Erwartungen der Umwelt seien so hoch, dass man sie nicht erfüllen könnte – also  strebt man es gar nicht erst an, das ernannte Ziel zu erreichen und schützt sich somit vor einem möglichen Versagen. Auch kommen Betroffene nur schwer damit klar, dass sich Arbeiten nun mal nicht immer angenehm anfühlen, sie brauchen oft die schnelle Belohnung.

"Prokrastinieren schützt unter anderem vor einer Stimmungsverschlechterung, die sich einstellen würde, wenn sich der Betroffene an die zu erledigende Aufgabe machen würde", sagt Rist. Wer chronisch aufschiebt, stehe außerdem besser vor sich selbst da: "Er kann sich einreden, dass er die Prüfung besser bestanden hätten, die Arbeit besser geworden wäre, wenn er nur rechtzeitig damit angefangen hätte." Allerdings ist nicht alles, was nach Prokrastination aussieht, auch eine: Bevor es mit dem Lerntraining losgeht, schließen die Experten aus, dass eine depressionsbedingte Antriebsschwierigkeit vorliegt oder eine Anlage zur erhöhten Ablenkbarkeit durch eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS.

So hartnäckig die Aufschieberitis auch ist, so einfach hören sich die Strategien an, die für das Münsteraner Lerntraining entwickelt wurden. Unter anderem ist es entscheidend, den Arbeitsplatz aufzuräumen und Störfaktoren komplett auszuschalten: Handy, Telefon, Internet. Pünktlich anfangen, vernünftig planen - auch das wird eingeübt. "Früher wollte ich zehn Seiten am Tag schaffen, doch das war völlig utopisch", erzählt Nina Holzner. "Realistischer ist, sich zu sagen, heute schaffe ich eine Seite, dafür nehme ich mir zwei Stunden Zeit." Effektiv sei auch die sogenannte "50-Prozent-Regel": Wer sich beispielsweise eine Seite vornimmt und nur eine halbe schreibt, solle sich dafür loben, dass er zumindest die Hälfte geschafft hat. Sich selbst nicht zu hart ins Gericht nehmen und jeden kleinen Fortschritt sichtbar machen, auch das bringt voran. "Ich habe mir auf Zetteln notiert, was ich geschafft habe, das hat gut getan", so die Studentin.

Keine unklaren Vorhaben

Ein Fehler, den Prokrastinierer oft machen: einfach nur ins Blaue hinein loslegen. Doch je unklarer das Vorhaben, desto problematischer, es umzusetzen. "Man sollte sich die Situationen möglichst bildhaft vorstellen", rät Rist. Eine andere Strategie, die erstmal seltsam klingt: Arbeitszeit konsequent reduzieren. 45 Minuten täglich, das genügt am Anfang. Ein psychologischer Trick, wie Rist erklärt: "So wird die Arbeitszeit zu etwas Wertvollem." Man dürfe keine Kompromisse eingehen, sondern müsse sich strikt an die Zeitvorgabe halten. Wer das hinkriege, dürfe am nächsten Tag, zur Belohnung quasi, 20 weitere Minuten dranhängen. Und so weiter.

Die Erfolsquote: Bei 70 Prozent aller Trainingsteilnehmer konnten die Experten eine dauerhafte Veränderung feststellen. Ein beachtliches Ergebnis, meint Rist. "Selbst wenn man die Strategien kennt, kostet es viel Kraft, sich daran zu halten. Doch ich habe es hingekriegt. Ich weiß jetzt endlich, wie ich das Aufschieben aktiv verhindern kann", freut sich Holzner. Doch sie bleibt realistisch: "Aber ich werde garantiert nie der Typ sein, der drei Wochen vor Abgabetermin seine Arbeit fertig hat."

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