Wut, Hass, Bitterkeit - das hat sie alles gegenüber ihrer Familie schon empfunden. Aber Stefanie Ritzmann hat ein großes Herz und sieht ihre eigene Biografie inzwischen anders. "Ich kann meine Eltern sogar irgendwie verstehen", sagt 47-Jährige, die mit verkürzten Armen und Beinen zur Welt kam, nachdem ihre Mutter in der Schwangerschaft Contergan eingenommen hatte. "Meine Mutter war sehr jung, als ich geboren wurde; damals gab es wenig Hilfen". Stefanie Ritzmann wurde in Krankenhäusern und Heimen groß. Zu ihrer Mutter und den zwei jüngeren Geschwistern hat sie nur noch ganz sporadischen Kontakt. Aus ihrer Kleinkind-Zeit besitzt sie nur zwei Schwarz-Weiß-Fotos von sich. "Die Zeit in den Heimen prägte mich und lehrte mich, zu kämpfen und selbstständig zu werden", sagt sie.
Krankenhäuser, Heime, ein Internat, dann zehn Jahre Ehe - früher dachte sie, sie könne nie alleine sein, erzählt Stefanie Ritzmann. Erst als ihre Ehe geschieden wurde, lernte sie mit Hilfe von guten Freunden, tatsächlich ganz alleine zu sein und alleine zu leben. Sie nahm Gesangsunterricht, singt im Chor, ihr Traumberuf ist Opernsängerin. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Verwaltungsangestellte bei der Stadt Karlsruhe, bis sie vor vier Jahren in Frührente gehen musste: Die Folgeschäden ihrer Behinderung sind zu gravierend, Schulter, Nacken und Rücken schmerzen unentwegt. Die Contergan-Opfer kommen gerade in ein Alter, in dem ihre besonderen Körperbelastungen zu verschlissenen Gelenken, Bändern oder einer abgenutzten Wirbelsäule führen.
Das Buch: "Contergan - Fünf Lebensgeschichten"
Für sein aktuell erschienenes Buch "Contergan - Fünf Lebens- geschichten" (Wellhöfer Verlag, 72 Seiten, 39,80 Euro) hat der Fotograf Carsten Büll ein Jahr lang Betroffene der Contergan-Katastrophe begleitet und portraitiert. "Wurde anfangs intensiv über die geschädigten Babys und Kinder berichtet, so weiß heute kaum jemand, was aus ihnen geworden ist und wie diejenigen heute leben", schreibt er im Vorwort. Und er kommt zu dem Schluss: "Glück und Unglück im Leben hängen ganz offensichtlich nicht davon ab, ob man lange oder stark verkürzte Arme hat."
Wegen der dauernden Schmerzen fallen Stefanie Ritzmann die täglichen Verrichtungen schwer, beim Putzen, Waschen und Duschen unterstützt sie eine Haushaltshilfe. Hosen zieht sich Stefanie Ritzmann prinzipiell im Liegen an - sie lässt extra Schlaufen daran nähen, damit sie sie besser hochziehen kann. "Oberteile mit Knöpfen sind tabu, die könnte ich gar nicht zu- oder aufmachen", sagt sie. Fällt etwas auf den Boden, hebt sie es mit einer Art Greifzange an einem langen Stiel auf.
Während ihrer Ehe wünschte sich Stefanie Ritzmann eigene Kinder: "Aber es hat leider nicht geklappt, obwohl es medizinisch möglich gewesen wäre", sagt sie. "Da war immer eine gewisse Angst in mir, ob ich das alles mit einem Baby schaffen würde. Vielleicht hat die Psyche das auch beeinflusst." Derzeit hat sie keinen Partner. "Die meisten Männer haben eine andere Vorstellung von Frauen", sagt sie. "Ich bin in einer Phase, wo ich gar keinen Mann möchte." Sie sei mit ihrer Eigenständigkeit zufrieden und damit, dass sie niemandem Rechenschaft ablegen müsse. "Aber es gibt auch Momente, in denen ich denke, dass es schön wäre, wenn jemand da wäre", sagt sie. "Das ist ein kurzer Schmerz und den lasse ich dann auch zu."