Professor Carson, schon etwa drei Monate nach der Opera-tion darf Lea mit ihren Eltern wieder nach Hause. Sie leidet aber noch unter etlichen Beeinträchtigungen. Wie wird sich das Mädchen Ihrer Einschätzung nach weiterentwickeln?
Ich denke, dass sie intellektuell auf der Höhe sein wird. Ich vermute auch, dass sie im Laufe der Zeit all ihre Gliedmaßen wird bewegen können. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob sich die Feinmotorik wieder völlig erholt. Ein weiteres Problem ist das Sehen. Wir können feststellen, dass sie auf Gesichter reagiert, dass ihre Pupillen reagieren, dass sich ihre Augäpfel bewegen. Sie sieht also etwas. Aber einfach gesagt: Wir wissen nicht, ob Leas Gehirn versteht, was sie sieht. Und sie ist ja noch zu jung, um uns das sagen zu können.
Besteht eine Chance, dass sich die Sehfähigkeit wieder verbessert?
Wahrscheinlich ist das nicht. Das Gehirn kann sehr viel wettmachen. Aber gerade beim Sehen ist das sehr schwierig. Wir hoffen, dass noch ausreichend große Teile der Sehrinde intakt sind. Wie weit die Schädigung tatsächlich geht, werden wir abwarten müssen.
An den Hinterköpfen der Mädchen - dort, wo das Sehzentrum liegt - verliefen komplizierte Venengeflechte, die Sie bei der Operation trennen mussten. Ist es dabei zu den Schädigungen gekommen?
Ja. Vor allem gegen Ende der Operation, als wir sehr schnell handeln mussten, um wenigstens Leas Leben zu retten.
Es gibt auch noch Probleme mit dem Drucksystem von Leas Gehirn. Sie produziert zu viel Hirnflüssigkeit. Kann sich das wieder normalisieren?
Wenn, würden wir es gar nicht merken. Wir haben ihr einen Abfluss gelegt, einen so genannten Shunt, der das überschüssige Hirnwasser in ihre Bauchhöhle ableitet. Dort wird es einfach absorbiert. Es gibt keinen Grund, den Shunt zu entfernen.
Leas linke Körperhälfte scheint weitgehend gelähmt zu sein.
Sie leidet an einer so genannten Hemiparese, einer leichten halbseitigen Lähmung. Auf der linken Seite ist zwar etwas Bewegung zu beobachten, aber nicht viel spontane Aktivität. In einem solchen Fall kann das Gehirn aber einiges kompensieren. Ich bin sicher, dass das medizinische Team in Deutschland sehr viel für Lea tun kann.
Nach der Operation kam es zu epileptischen Krämpfen. Wie ernst ist das?
Bei so schwerwiegenden Eingriffen am Gehirn ist eine Epilepsie leider nicht ungewöhnlich. Lea bekommt dagegen Medikamente, und es ist zurzeit alles sehr gut unter Kontrolle.
Wird sie die Medikamente für den Rest ihres Lebens nehmen müssen?
Wir hier warten meist ab, bis unsere Patienten mindestens ein Jahr lang keine Krämpfe haben. Dann beginnen wir, die Mittel abzusetzen. Wir hoffen, dass das auch bei Lea so sein wird. Wie lange sie Medikamente nehmen muss, werden aber ihre Ärzte in Deutschland entscheiden. Da hat jeder sein eigenes Verfahren.
Leas Schwester Tabea hat die Trennungsoperation nicht überlebt. Gab es vorher irgendwelche Anzeichen, dass so große Probleme auftreten könnten?
Tabea war für uns zweifellos immer das schwierigere der beiden Mädchen. Die Anästhesisten sagten mir, dass sie es bei den Narkosen mit Tabea immer besonders schwer hatten. Sie neigte also offenbar zu Herzproblemen. Trotzdem waren wir dann völlig überrascht. Der erste Teil der Operation verlief so glatt, es war unglaublich. Und auf einmal sagte ihr kleines Herz: Nein, ich mach nicht mehr mit. Von da an hat es tatsächlich nie wieder richtig mitgemacht.
Ab wann mussten Sie fürchten, das Mädchen zu verlieren?
Beim ersten Herzstillstand am Abend des 11. September. Das war eine sehr ernste Situation. Aber wir waren auf so etwas vorbereitet. Wir hatten oft geübt, und jeder im OP-Saal wusste, was zu tun war. Wir haben das dann auch in den Griff bekommen und dachten eigentlich, wir könnten weitermachen. Aber 20 oder 30 Minuten später setzte Tabeas Herz wieder aus. Und da war klar, dass wir den Eingriff unterbrechen mussten.
War es schwer, das Mädchen noch einmal zu stabilisieren?
Über mehrere Stunden hatten wir ernste Schwierigkeiten. Tabea verfiel immer weiter. Wir mussten uns sogar darauf einstellen, die beiden Kinder in einer Notoperation trennen zu müssen. Doch dann wurde die Lage allmählich wieder besser.
Waren Sie also optimistisch, als Sie die OP vier Tage später wieder aufnahmen?
Natürlich hatten wir im Hinterkopf, was passiert war. Aber die Herzspezialisten kamen zu dem Urteil, wir könnten wohl weitermachen.
Und dann ging es in der Nacht der zweiten Operation doch dramatisch bergab.
Ich kann Ihnen gar nicht beschreiben, wie schrecklich ich mich gefühlt habe. Für einen Moment habe ich mich gefragt: Warum, um Himmels willen, machst du so etwas überhaupt?
Wie ging es den anderen in Ihrem Team?
Die waren bewundernswert. Ich weiß gar nicht, ob ich so etwas noch einmal erleben werde. Wie sie sich alle eingebracht haben und an einem Strang zogen, das war einfach unglaublich.
Es zeichnete sich schließlich trotzdem ab, dass Tabea sterben würde. Sie haben sich dann mit Ihrem leitenden Anästhesisten und auch mit einem Ethiker beraten. Worum ging es dabei?
Tabeas Herz schlug zu der Zeit noch, aber der Kreislauf war schon zusammengebrochen. Es wurde uns klar, dass sie es nicht schaffen würde. Da dachte ich, es sei das Beste, wenn wir sie rausbrächten, damit Mama und Papa an ihrem Bett sein könnten, wenn die letzten Spuren ihres Lebens sie verlassen würden.
Die Eltern hatten große Erwartungen in Sie gesetzt. Nun mussten Sie ihnen sagen, dass ein Kind sterben würde.
Ich war wie benommen. Wissen Sie, das ist etwas, an das ich mich niemals gewöhnen werde. Glücklicherweise muss ich solche Nachrichten nicht oft überbringen. Das ist sehr, sehr schwer.
Wie haben Nelly und Peter reagiert?
Die waren einfach wunderbar. Unglaublich. Sie sind so mitfühlend, dabei aber logisch und unerschütterlich wie ein Fels. Die beiden haben enorme Stärke. Und das hat dem chirurgischen Team sehr geholfen. Wir waren doch völlig fertig wegen Tabea. Vor allem, weil wir trotz der Probleme beim ersten Eingriff nicht wirklich mit ihrem Tod gerechnet hatten.
Tabea starb etwa um halb zwei in dieser Nacht. Sind Sie dann noch nach Hause gefahren?
Nein. Wir haben natürlich auf der Intensivstation nach Lea gesehen. Und dann saß ein Teil des Teams noch ein paar Stunden zusammen und hat geredet.
Sie hatten eine schwere Niederlage zu verkraften.
Sagen wir so: Die Operation verlief nicht so gut, wie wir es erhofft hatten. Wir waren hin- und hergerissen. Einerseits waren wir überglücklich, als uns klar wurde, wie leicht wir beide Mädchen hätten verlieren können. Wir hatten einen minuziösen Notfallplan, wir hatten ihn geübt, er hatte funktioniert. Darüber waren wir fast in Jubellaune. Und auf der anderen Seite waren wir am Boden zerstört, weil wir diesen Plan überhaupt hatten ausführen müssen.
Einen guten Monat zuvor hatten New Yorker Ärzte zwei philippinische Jungen erfolgreich getrennt. Geht einem so etwas im Kopf herum, wenn man dann selbst operiert? Standen Sie unter Erfolgsdruck?
Nein, überhaupt nicht. Über so etwas darf man nicht nachdenken, wenn man seine Arbeit macht.
In New York wurde die Trennung der am Kopf zusammengewachsenen Zwillinge in mehreren Stufen durchgeführt. Wäre das im Nachhinein betrachtet auch bei Lea und Tabea gut gewesen?
Nein. Ich habe mit den New Yorker Chirurgen zuvor darüber gesprochen. Das venöse System der Gehirne ihrer Zwillinge dort war völlig anders als das von Lea und Tabea. Da gab es keine Parallelen.
Wenn Sie vor einigen Monaten schon gewusst hätten, was Sie heute wissen, hätten Sie dann bei der Trennung von Lea und Tabea etwas anders gemacht?
Ja, einiges. Ganz sicher hätte ich einige Monate vor der OP damit begonnen, die Form der Schädel vorsichtig zu verändern, damit die beiden Gehirne Platz gehabt hätten, sich schon etwas zu trennen. Das hätte die OP sicher leichter gemacht. Die beiden Gehirne waren ja sehr zusammengepresst und griffen auch ineinander. Außerdem waren sie etwas verformt. Wahrscheinlich hätte ich Tabea auch einen Herzschrittmacher eingepflanzt. Aber sie hat uns leider einfach überrascht.
Was steht jetzt als Nächstes für Lea an?
Sobald sie wieder in Deutschland ist, wird die Rehabilitation beginnen. Und ich bin sicher, dass sie vor allem bei der Motorik gewaltige Fortschritte machen wird.
Bekommt sie bald einen maßgefertigten Helm, um ihr Gehirn zu schützen?
Erst einmal müssen alle Wunden komplett verheilen. Unsere plastischen Chirurgen sind sehr zufrieden bis jetzt. Aber wir wollen vorerst noch keinen Druck auf den Schädel ausüben. Abgesehen davon wird Lea in absehbarer Zeit nicht viel unternehmen können, wobei sie einen Helm bräuchte.
Wann wird voraussichtlich der fehlende Teil ihres Schädels nachgebildet werden?
Ich denke, das könnte in einem knappen Jahr so weit sein.
Da wächst das Gehirn aber noch. Wie soll die Rekonstruktion erfolgen?
Die plastischen Chirurgen können dafür Knochen aus anderen Teilen des Körpers nehmen. Zum Beispiel ist es möglich, Rippen zu zerteilen und diese Stücke dann rund um das Gehirn zu platzieren. Das funktioniert sehr gut. Außerdem wird es möglich sein, kleine Knocheninseln zu bilden, die dann später zusammenwachsen. Aber das alles wird nun das Team in Deutschland entscheiden.