Videoschirme sind überall. Selbst in Bussen und Bahnen, beim Einkaufen und natürlich zuhause, und da meist nicht mehr nur in einem Zimmer. Das bedeutet aber auch, dass wir - zusätzlich zur normalen Umwelt der Dinge und Akteure - einem andauernden visuellen Informationsstrom ausgesetzt sind, den ein Kopf erst einmal verarbeiten muss. Zumal, wenn dieser Kopf noch ganz jung ist und gerade dabei, sich überhaupt erst in der Welt zurechtzufinden. Es ist für Kleine nämlich gar keine Kleinigkeit, zum Beispiel das zweidimensionale Abbild eines Würfels oder Autos auf einem flachen Fernseher mit einem dreidimensionalen Würfel oder Auto aus dem echten Leben in Verbindung zu bringen. Ein Grund vermutlich, warum entsprechende Forschungsarbeiten einen "Video-Defizit-Effekt" zutage fördern: Vor dem Bildschirm wird von einem Kind bis zu einem Alter von mindestens drei Jahren durchweg weniger gelernt als wenn die gleiche Lektion mitten im Leben beobachtet werden kann.
Solche Ergebnisse sind reproduzierbar und stellen schon einmal alle angeblichen medialen Wunderwaffen in Frage, die aus einem Baby einen kleinen Einstein machen sollen. Der direkte Austausch mit einem Menschen ist bei den Jüngsten auch durch das raffinierteste Bildungsfernsehen nicht zu ersetzen. Wenn er also schon nicht viel nützt, könnte früher Fernsehkonsum dann vielleicht sogar schaden? Derartige Befürchtungen gibt es schon lange. Aber womöglich sind die ja ähnlich überzogen wie die Versprechungen, die bei medialen Schlaumachern mitgeliefert werden.
Kein Nutzen in den ersten Lebensjahren
Die Psychologinnen Mary Courage und Alissa Setliff von der kanadischen Memorial University in St. John's haben jetzt noch einmal alle verfügbaren Untersuchungen zum Thema des frühkindlichen Fernsehkonsums zusammengetragen und bewertet. Dabei zeigt sich natürlich: Auch schon die Allerkleinsten werden vom Trubel auf dem Bildschirm wie magisch angezogen. Dass bedeutet aber nicht, dass in ihren Köpfchen irgendetwas Nennenswertes hängen bleibt. Zumindest auf der Verstandesebene. Dafür ist das Gehirn eines Babys von ein paar Monaten einfach noch nicht weit genug.
Frank Ochmann
Der Physiker und Theologe verbindet als stern-Redakteur natur- und geisteswissenschaftliche Interessen und befasst sich besonders mit Fragen der Psychologie und Hirnforschung. Mehr auf seiner Homepage.
Das besondere Interesse am Bildschirm geht aber auch später nicht verloren. Läuft in der Nähe ein Fernseher, kleben auch bei ein- bis eineinhalbjährigen Kindern die Augen die allermeiste Zeit (zu 60 bis 70 Prozent) am Gerät. Aber erst irgendwann im dritten Lebensjahr ist normalerweise ein Reifegrad im Kopf erreicht, der es ihm erlaubt, beim Blick auf den Bildschirm auch etwas zu lernen. Was dann vom Inhalt her gut oder weniger gut sein kann. Lernen durch Beobachten ist in der ersten Lebenszeit jedenfalls keine Selbstverständlichkeit und scheitert manchmal auch noch bis in die Schuljahre hinein an mangelnden Erfahrungen, mit denen sich das Gesehene in die eigene Lebenswelt übertragen lässt. Fernsehen kann in den ersten zwei, drei Lebensjahren also keinen nachvollziehbaren Nutzen haben, weil auf der Empfängerseite noch etliche Voraussetzungen fehlen, damit etwas Sinnvolles anzufangen, auch wenn das dann von Tag zu Tag besser wird.
Fernseher kein Ersatz für reale Beziehungen
Und was ist mit dem möglichen Schaden? Wenn die Knirpse oft verstandesmäßig nichts mitnehmen können, bleibt dennoch eine zweite Komponente, die auch schon in diesen frühen Kindheitstagen ausgesprochen wichtig ist: die emotionale. Babys sind voller Gefühle, können sich erschrecken, und schon ganz Kleine können vor dem, was sich auf dem Bildschirm tut, auch Angst bekommen. Sie können umgekehrt aber auch zu Fernseh-Figuren wie den Teletubbies Zuneigung, Vertrauen und sogar eine regelrechte Bindung entwickeln, wie entsprechende Studien gezeigt haben. Eine Bindung aber, die unerwidert bleibt und ins Leere läuft.
Das alles muss nicht gleich tragisch sein und Schäden für den Rest des Lebens hervorrufen, führt aber zu dem Resultat, das auch schon beim Lernen deutlich wurde: Reale Menschen sind weder als Lehrer noch beim Aufbauen einer Sicherheit, Geborgenheit und Liebe bietenden Beziehung zu ersetzen. Durch kein smartes Video und keine noch so kuschelige Fernsehsendung. Viel Arbeit auf diesem Feld frühesten Medienkonsums bleibt zwar noch zu tun, wie die Forscherinnen betonen. Doch auch unabhängig von noch abzuwartenden Details gibt es schon jetzt einen klaren Rat für Eltern und Erzieher: Babys und Kleinkinder gehören besser nicht vor den Bildschirm. Auch nicht zusammen mit Erwachsenen.
Literatur:
- Anderson, D. R. & Hanson, K. G. 2010: From blooming, buzzing confusion to media literacy: The early development for television viewing. Developmental Review (im Druck, online vorab: doi:10.1016/j.dr.2010.03.004)
- Barr, R. 2010: Transfer of learning between 2D and 3D sources during infancy: Informing theory and practice. Developmental Review (im Druck, online vorab: doi: 10.1016/j.dr.2010.03.001)
- Courage, M. L. et al. 2010: When the television is on: The impact of infant-directed video on 6- and 18-months-olds' attention during toy play and on parent-infant-interaction. Infant Behavior and Development 33, 176-188
- Courage, M. L. & Setliff, A. E. 2010: When babies watch television: Attention-getting, attention-holding, and the implications for learning from video material. Development Review (im Druck, online vorab: doi: 10.1016/j.dr.2010.03.003)
- Christakis, D. A. 2009: The effects of infant media usage: what do we know and what should we learn? Acta Pædiatrica 98, 8-16
- Kirkorian, H. L. et al. 2009: The Impact of Background Television on Parent-Child Interaction. Child Development 80, 1350-1359