Freud sitzt in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock der Wiener Berggasse 19 am Schreibtisch, umringt von nackten Prinzessinnen, chinesischen Weisen, in sich versunkenen Buddhas, einer geflügelten Sphinx und gottgleichen Pharaonen. Er stecke mitten in der inneren Arbeit, schreibt der 41-Jährige an Wilhelm Fließ, den Empfänger seiner intimsten Gedanken, also mitten in der Selbstanalyse. Und die packt und zerrt ihn durch alte Zeiten, bis ein Gedankenblitz die Schatten der Vergangenheit erhellt und eine verschwundene Szene wieder aufleuchtet:
"Meine Libido gegen matrem war erwacht"
Sigmund ist fast vier Jahre alt, da reist er nachts mit seiner Mutter allein im Abteil nach Wien. Für einen Augenblick sieht er die schöne Frau nackt. Der Junge ist so verwirrt und verzückt, dass er dieses Ereignis noch heute, fast vierzig Jahre später, nur auf Lateinisch aussprechen mag: meine Libido gegen matrem war erwacht. Und er schreibt weiter an den Freund: Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit.
Es ist die Geburtsstunde des Ödipuskomplexes, dieser 15. Oktober 1897. Ödipus, der sagenhafte König von Theben, hatte seinen Vater erschlagen, den er nicht kannte, und dessen Witwe geheiratet, von der er nicht wusste, dass sie seine Mutter ist. Erst Jahre später entdeckt Ödipus, dass er die Ursache eines ungeheuren Dramas ist, das Mord und Inzest heißt. Jeder ... war einmal im Keime und in der Fantasie ein solcher Ödipus, schreibt Freud. Er selbst wird von nun an in Vergangenheiten graben, wird das Unbewusste heben, wird die Rätsel der Seele auf seiner bald weltberühmten Couch lösen.
Es ist die Zeit der Wiener Jahrhundertwende. Neurastheniker und Hysteriker werden noch mit Hypnose und Elektroschocks behandelt. Doch Freud will an die Wurzel des Übels. Nervenkrankheiten haben für ihn sexuelle Ursachen, Masturbation oder Coitus interruptus. Deshalb plädiert er für freien Geschlechtsverkehr zwischen jungen, unverheirateten Menschen. Freie Liebe erhält die Gesundheit, fördert das Selbstvertrauen und lässt Neurosen erst gar nicht aufkommen.
Freud fordert freie Liebe zwischen Unverheirateten
Das ist ein Trompetenstoß ins Herz der Gesellschaft, in der jeder Schritt vom Wege weg krank macht, in der gepredigt wird, dass Selbstbefriedigung impotent und blind macht, in der Angst gezüchtet wird, in der alle Augenblicke irgendwo ein Revolver kracht und eine verstörte Seele auslöscht. Junge Mädchen sind mit Haken und Ösen bis zum Hals vom Leben abgeschlossen und treten ahnungslos vor den Altar. Der Schriftsteller Stefan Zweig erinnert sich noch an die groteske Geschichte seiner Tante: Verlobung, Trauung, Tanz und - Panik. Mitten in der Hochzeitsnacht steht die Braut völlig aufgelöst vor der Wohnungstür ihrer Eltern und klingelt Sturm. Kind, was ist passiert? Sie sei mit einem Wahnsinnigen verheiratet, schluchzt die Tochter. Ja, was hat er denn gemacht? Er hat versucht, sie zu entkleiden!
Frauen sind Nervenbündel. Männer gehen ins Bordell. Es ist Arthur Schnitzler, der in seinen Theaterstücken jene kleinbürgerlichen Göttinnen beschreibt, die sich in ihren Gefühlen verheddern. Er durchleuchtet die ganze Wiener Gesellschaft: verführte Jungfrauen, frigide Damen, glücklose Gattinnen. Er beschreibt sie elegant und frivol in der Abenddämmerung der Donaumonarchie.
Bei Freud liegen sie dann für Monate oder Jahre auf der Couch. Und der Ödipuskomplex ist längst Gesprächsstoff in Kaffeehäusern und Studentenbuden. Um den Ödipuskomplex raufte man sich, schreibt Elias Canetti, der in Wien studiert, jeder wollte seinen. Und am Ende einer Diskussion saß die ganze Gesellschaft gleich schuldig da, potentielle Mutterliebhaber und Vatermörder, durch den mythischen Namen umnebelt, heimliche Könige von Theben. In Budapest erfindet der Satiriker Ferenc Molnár die witzigste Kurzformel für Freuds berühmtesten Komplex: Junger Mann, glücklich verheiratet mit seiner Mutter, entdeckt, daß sie nicht seine Mutter ist - erschießt sich.
Freud selbst ist, gemessen an seinen bahnbrechenden Erkenntnissen, eher konservativ. Über Sexualität wird zu Hause nicht geredet. Seine Kinder werden vom Hausarzt aufgeklärt, nicht vom Tabubrecher. Seine Frau ist der sorgende Hausgeist. Gleichberechtigung? Kann Freud sich nicht vorstellen. Da steckt er tief im 19. Jahrhundert. Und er findet auch, dass die Überlegenheit des Mannes das kleinere Übel ist.
Sigismund bleibt der Goldsohn der Mutter
Überlegen fühlt er sich schon in Freiberg, der kleinen Stadt in Mähren, wo aus der Ferne die Karpaten schimmern. Da wird Sigismund Schlomo am 6. Mai 1856 geboren. Ein altes Bauernweib prophezeit Amalia Freud, dass ihr Erstgeborener einmal ein großer und berühmter Mann werden wird. Süße Träume sind das für die junge Frau, die mit ihrem zwanzig Jahre älteren Mann Jacob Freud, einem glücklosen, jüdischen Wollhändler, in einem einzigen Zimmer zur Miete lebt. Eines Tages ist in dieser Enge wieder ein Baby da, Anna. Eine Rivalin, gezeugt vom Vater im Bett der schönen Mama.
1860 zieht die verarmte Familie nach Wien, wo der Antisemitismus weniger aggressiv ist. Doch auch hier wird das Leben nicht leichter, denn Amalia Freud ist gesegnet und fruchtbar und bekommt noch vier Kinder. Aber Sigmund - wie er sich später nennen wird - bleibt der Goldsohn der Mutter. Dabei ist es noch gar nicht lange her, da war er nachts in die Schlafkammer seiner Eltern geschlichen. Wollte er die beiden beobachten? Beim Beischlaf vielleicht? Jedenfalls steht er herausfordernd da und pinkelt seelenruhig ins Zimmer.
Er sucht sich andere Vorbilder als den Vater - Hannibal oder Alexander den Großen
Das war ein symbolischer Akt, vom Schlafraum der Eltern Besitz zu ergreifen, schreibt der Analytiker Erich Fromm, und zeige eine aggressive Tendenz gegen den Vater. Der springt wütend aus dem Bett und fährt seinen Sohn vor der Pfütze an: Aus ihm werde später einmal nichts werden! Gar nichts! Welch furchtbare Kränkung für meinen Ehrgeiz, schreibt Freud später in seiner "Traumdeutung". Jahrelang wird ihn diese Episode verfolgen. Bis in die Nächte hinein. Aus ihm nichts werden? Wann immer er von dieser Peinlichkeit träumt, träumt er auch von seinen Erfolgen in der Schule. Manisch. Und lernt wie ein Besessener. Dabei ist er Primus. Die Lehrer rufen ihn schon gar nicht mehr auf. Der Junge weiß ja sowieso alles.
Eines Tages geht Sigmund mit seinem Vater spazieren. Der will ihm erklären, wie gut es die Juden heute in Österreich haben, im Gegensatz zu früher in Freiberg. Als er ein junger Mann war, so erzählt er, ging er mit seiner neuen Pelzmütze auf dem Trottoir. Da kam ihm ein Christ entgegen, ging direkt auf ihn zu, brüllte: Jud, herunter vom Trottoir! und schlug ihm die Kappe vom Kopf. Was hast du da getan?, fragt der Sohn. Er sei halt auf die Straße gegangen und habe die Mütze aus dem Dreck geholt. Wie bitte? Sigmund kann es nicht glauben. Sein Vater ist doch ein großer starker Mann. Der geht doch vor einem Goi nicht in die Gosse. Ach, er ist ein Feigling, sein Vater. Humor hat er, ja, aber keine Größe. So sucht der Sohn sich andere Vorbilder: Alexander den Großen, auch ein kleiner Ödipus, der seine Mutter liebt und den Vater am liebsten tot sähe, und Hannibal. Der wird sein Liebling, dieser unerschrockene Semit aus Karthago, der nach Rom zieht, um seine Heimat zu verteidigen. Ansonsten ist er der Muttersohn, der vergöttert wird. Wenn man der unbestrittene Liebling der Mutter gewesen ist, schreibt Freud, so behält man fürs Leben jenes Eroberungsgefühl, jene Zuversicht des Erfolges.
Freud macht summa cum laude Matura. Der Held der Klasse ist ein Horror für seine Schwestern. Er verbietet Anna das Klavierspiel, weil Musik für ihn Geklimper ist, und beschlagnahmt als prüder Zensor Romane von Dumas oder Balzac. Er selbst liest Homer, Sophokles, Shakespeare, Cervantes, Goethe, Schiller, Lichtenberg. Und er ist der Einzige in der Familie, der einen Raum für sich allein hat, sein Kabinett.
Als Freud in Wien Medizin studiert, steht der Antisemitismus mal wieder in voller Blüte. Am 9. Mai 1873 hat es einen gewaltigen Börsenkrach gegeben, unzählige Familien sind ruiniert, Bankrotteure erschießen oder erhängen sich, und dann bricht auch noch die Cholera aus. Für so viel Unglück müssen Sündenböcke her. Juden natürlich. Freud ist entsetzt, dass auch Studenten - also eigentlich intelligente Menschen - sagen, Juden seien nicht satisfaktionsfähig und sollten sich ihrer Rasse schämen. So wächst er ungewollt in eine Oppositionshaltung hinein, wird mutig und unabhängig, schmettert ein paar Rüpeln, die ihm elender Jude nachbrüllen, Gesindel hinterher, und ihm ist dabei zumute, als hätte er den ganzen Trotz und die ganze Leidenschaft seiner Ahnen geerbt, als sie ihren Tempel verteidigten.
Freud wehrt sich gegen den zunehmenden Antisemitismus
Ein paar deutsche Professoren, die ihre kleinkarierten österreichischen Kollegen ignorieren, fördern den Hochbegabten, machen ihn mit Darwin vertraut, der Gott einen guten Mann sein ließ und sagte: Das Schwache muss dem Starken weichen; und alles, was ist, ist entstanden durch weltliche Kraft. Das gefällt Freud. Auch er ist auf der Suche nach Wahrheit und damit - wie Darwin - auf dem Wege, Illusionen zu zertrümmern.
Eines Tages haben seine Schwestern wieder mal Besuch. Wie immer schaut der junge Doktor nur kurz ins Zimmer, grüßt und - es trifft ihn der Blitz. Sitzt da ein bezauberndes Mädchen und schält zu reizendem Geplauder einen Apfel. Es ist Martha Bernays, 21 Jahre, orthodoxe Jüdin. Sieht sie nicht aus wie die schöne Melusine bei Goethe? Aber nein, diese Martha ist doch keine Nixe, sondern ein holdes Menschenkind, und die lacht und erzählt und schält weiter an ihrer Verführung. Die oder keine will der 25-Jährige. Er schickt ihr Tag für Tag eine rote Rose, nennt sie Prinzeßchen, schreibt verliebte Verse, verlobt sich heimlich mit ihr, ist eifersüchtig auf ihren Vetter, Martha soll den bitte siezen und nicht Max nennen. Ja, ja, er weiß, dass er eine Neigung zur Tyrannei hat. Sagt: Ich bin so ausschließlich, wo ich liebe.
Doch sein Feind sitzt ganz woanders. Marthas Mutter ist gegen die Verbindung. Der junge Mann soll sich erst mal habilitieren und Geld verdienen. Und das wird ja wohl noch dauern. Aber eine lange Verlobungszeit am selben Ort? Nein, sagt sie streng, das Mädchen wird blutarm, und der Mann fällt durchs Examen. So beschließt sie, mit der Familie zu ihren Verwandten nach Hamburg zu ziehen. Die entsetzten Liebenden ahnen nicht, dass vier Trennungsjahre vor ihnen liegen. Endlose Zeit. Qualvolle Enthaltsamkeit. Unterdrückte Sexualität. Freud kann später einschätzen, worüber seine Patienten klagen. Rauchen ist seine Ersatzbefriedigung: Rauchen läßt sich nicht entbehren, wenn man nichts zum küssen hat.
Kokain vertreibt die Depressionen
Ehrgeizig und zielstrebig und oft voll Wut und Zorn auf Kollegen, die ihm den Weg zur Karriere versperren, arbeitet er sich langsam zum Privatdozenten hoch. Abends schreibt er dann in seinem Kabinett bezaubernde Briefe an Marthchen. Sie soll Rotwein trinken und Blaudsche Eisenpillen schlucken, die so gut gegen Bleichsucht sind. Und ordentlich essen soll sie und dicker werden. Sonst verkauft er seine Bibliothek, besorgt sich einen Fahrschein nach Hamburg und lauert ihr im Gehölz auf. Willst Du das, Geliebte?
Zu dieser Zeit experimentiert Freud mit Kokain. Bestellt sich bei der Firma Merck in Darmstadt erst einmal ein Gramm der Droge und probiert das Mittel zunächst bei sich selbst aus. Er ist begeistert. Seine Depressionen sind wie weggeblasen! Also ein Zaubermittel! Er gibt es Kollegen, verteilt es leichtfertig an seine Schwestern, schickt Martha ein halbes Gramm im Fläschchen. Sie soll das mal nehmen, das macht stark, er weiß es, ist ja selbst ein großer wilder Mann, der Cocain im Leib hat. Kurz: Freud ist auf dem besten Weg, gemeingefährlich zu werden, schreibt Ernest Jones, Freuds Weggefährte und bewundernder Biograf.
Freud hat sich in dieser Zeit mit dem bekannten Wiener Arzt Josef Breuer angefreundet, diesem gütigen und großzügigen Physiologen. Wenn sie diskutieren, ist ihm, als ob ich in der Sonne säße. Breuer entzündet Freud für die Seelenkunde und erzählt ihm die Geschichte seiner Patientin Bertha Pappenheim, die unter dem Namen "Anna O." als unsterblicher erster Fall in die Geschichte der Psychoanalyse eingehen wird.
Anna O. wird Freuds berühmter erster Fall
Die junge Frau ist knapp über zwanzig, intelligent, schön, eigensinnig, vital, charmant. Sie liebt ihren Vater abgöttisch, und als der krank wird, löst das Ereignis bei ihr eine Hysterie aus. Sie identifiziert sich mit seinen psychosomatischen Symptomen, ekelt sich vor Speisen, mag nicht mehr essen, wird, wie ihr Vater, immer schwächer, und als er stirbt, wird sie zum "Fall". Sie halluziniert, sieht überall nur noch Totenköpfe, Gerippe und Schlangen, und die Schlangen kriechen Bertha in die Haare. Sie klagt über zwei Ichs, ein echtes und ein schlechtes. Und plötzlich ist ihr Deutsch weg. Sie spricht nur noch Englisch. Niemand im Haus versteht sie mehr. Nur Breuer hört zu. Und das tut ihr gut. Nach dem Reden geht es ihr besser. Sie nennt die Sitzungen bald ihre talking cure, ihre Redekur. Und einmal, als sie schon wieder sehr vergnügt ist, beschreibt sie die befreiende Erzählerei als chimney sweeping, Kaminfegen. Damit drückt die kluge Patientin aus, was Psychoanalyse einmal sein wird.
Freud wird nach dem spannenden Fall der Anna O. alias Bertha Pappenheim - die wieder gesund und als Frauenrechtlerin berühmt wird - eine neue Richtung ansteuern: Psychopathologie und Neurosenforschung. Das Zentrum dieser jungen Wissenschaft liegt in Paris. Er bekommt ein Stipendium, spart sich den Frack zusammen, poliert sein Französisch auf, ärgert sich über seinen Akzent und hört in der Nervenklinik Salpêtrière die Vorlesungen von Jean-Martin Charcot - dem Revolutionär in Sachen Hysterie. Freud ist beeindruckt, wie der Professor bei seinen Demonstrationen neurotische und paralysierte Patientinnen hypnotisiert. Und wenn sie wieder aufwachen, sind sie wie befreit.
Noch trauen die Patienten der neuen Wissenschaft nicht
Charcot sorgt dafür, dass der junge Mann aus Wien Kinderhirne bekommt, die er sezieren und auf Zerebrallähmung und Sprachstörungen untersuchen soll. Und eines Tages lädt der berühmte Arzt und Salonlöwe Freud zu einer der großen Abendgesellschaften in sein Zauberschloß ein. Diese Ehre kostet den armen Doktor vierzehn Franc, denn zum Frack braucht er ein neues Hemd, weiße Handschuhe, und der wilde Bart muss auch gestutzt werden. Ich war in tadelloser Toilette, schreibt er an Martha. Schreibt auch, dass er vorher eine Prise Kokain genommen hat, um das Maul öffnen zu können.
Als Freud fünf Monate später, im Frühjahr 1886, wieder in Wien ist, kündigt er seine Stellung im Krankenhaus, macht mit Schwung und leeren Taschen eine Privatpraxis auf, fährt nach Wandsbek bei Hamburg, heiratet seine Martha und verbietet ihr, zurück in Wien, die Sabbatkerzen anzuzünden. Nicht unter seinem Dach! Freud ist da Diktator. Ihm kommt auch kein koscheres Essen auf den Tisch. Alles Hokuspokus. Gegessen wird, worauf sie Lust haben. Wenn sie Geld haben. Anfangs verwaltet Martha nur den Mangel. Noch trauen die Patienten der neuen Wissenschaft nicht. Als Freud einmal völlig pleite ist, versetzt er seine goldene Uhr. In den nächsten neun Jahren wächst die Familie um sechs Kinder. Anna ist das Nesthäkchen. Sie wird einmal des Vaters Hilfe und Hüterin sein, seine "Antigone". Und Martha, die Frau, um die Freud einst wie ein Wilder gekämpft hat, für die er in Briefen Paradiese schuf und vor der er Herz und Seele öffnete, gehört nun zum Inventar.
Aus dem feurigen Liebhaber ist ein feuriger Forscher geworden, der Herz und Seele nun Wilhelm Fließ öffnet, einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt aus Berlin, den er in den Briefen Carissimo Guglielmo nennt oder Geliebter Freund. Freud, der von fast allen nichtjüdischen Kollegen verspottet und verlacht wird, braucht jemanden, den nichts schockiert, der ihn kritiklos unterstützt und rückhaltlos bewundert. All das tut Fließ und noch mehr. Fließ, der Jude ist wie Freud, fordert und reizt ihn, regt ihn an und erkennt schnell, dass er Zeuge eines Schöpfungsaktes wird. Und der Schöpfer schreibt: Du bist der einzige Andere, der a l t e r. Ihm erzählt er, dass er mit Martha abstinent lebt, dass der Coitus interruptus krank macht, erzählt von seinen erotischen Träumen und von seinen Patienten auf der Couch, wie er sie am Anfang noch hypnotisiert und schließlich eine heilsamere Technik anwendet, die freie Assoziation.
Freud lässt seine Patienten fortan auf der Couch erzählen
Am Anfang hat Freud die psychisch Kranken noch zu viel gefragt, hat sie zu oft unterbrochen, auch die Witwe Emmy v. N. Seien Sie still - reden Sie nichts, sagt sie. Und dann sprudelt es: Sie erzählt von ihrer toten Schwester im Sarg, von Ohnmachtsanfällen, Gespenstern, Ratten, Ängsten und Zusammenbrüchen. Und Freud erkennt, dass er nur zuhören muss, wenn die Schleusen erst geöffnet sind, wenn die Patienten frei assoziieren.
Die Fälle, die nun bei ihm auf der Couch liegen, sind spannend wie Romane von Balzac oder Flaubert. Ein junges Mädchen kann nicht mehr gehen. Freud untersucht sie, und sie stöhnt wie bei einem wollüstigen Kitzel. Als er sie fragt, was in ihr vorgeht, sagt sie: nichts. Aber das lässt Freud nicht gelten. Wenn sie wieder richtig gehen will, muss sie das Verdrängte erkennen und den Schmerz wegreden. Und so redet sie denn von Sitzung zu Sitzung mehr. Erzählt, dass sie ihren Schwager liebt und Todeswünsche gegen ihre Schwester hegt. Erst als sie ihre Gefühle akzeptiert, kann sie wieder gehen. Und Freud sieht bald seine geheilte Hysterikerin auf einem Hausball im Walzertakt dahinfliegen.
Freud gräbt das Vergessene aus wie ein Archäologe eine antike Stadt
Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist, hören die Wiener seit 1874 in der "Fledermaus" von Johann Strauß. Welch eine Illusion. Krank ist, wer vergisst. Und Freud gräbt das Vergessene aus wie ein Archäologe eine antike Stadt. Neurosen wachsen überall. Auch in den Hohen Tauern in 2000 Meter Höhe, wo Freud Urlaub macht. Da fragt ihn die junge Serviererin, ob sie den Herrn Doktor einmal sprechen könnte, ich bin nämlich nervenkrank. Freud ist verblüfft. So offen reden seine eher prüden Damen in der Stadtpraxis nicht. An was leiden Sie denn, fragt er. Ich hab so Atemnot, sagt die 18-jährige Katharina. Ich glaub immer, jetzt muß ich sterben. Und dann erzählt sie von ihrem Onkel, der sie bedrängt habe, und da musste sie sich dauernd übergeben, und ein paar Tage später sieht sie, wie der Onkel auf ihrer Cousine liegt, und dann hat er es wieder bei ihr versucht, aber sie hat gesagt, dann schreit sie. Und Freud hat den Eindruck, dass die lange, offene Erzählung ihr gut getan hat. So nimmt er denn auch diese Geschichte in seine "Studien über Hysterie" auf und fügt in einer Fußnote hinzu, dass es natürlich nicht ihr Onkel war, sondern ihr Vater.
Im Hauptquartier Berggasse 19 läuft alles seinen gewohnten Gang. Tagsüber analysiert Freud seine Patienten, abends arbeitet er an seinem Meisterwerk, der "Traumdeutung". Fantasieren und arbeiten, sagt er, fällt für mich zusammen, ich amüsiere mich bei nichts anderem. Wenn er in einem Gedankenloch steckt, legt er sich schon mal eine Patience, und seine Sucht, die Raucherei, steht ihm noch treu zur Seite. Verschobene Masturbation nennt er sie. Jeden Morgen geht er zum Tabakladen und kauft seine Tagesration. Zwanzig Zigarren. Noch immer. Und jeden Mittwoch treffen sich bei ihm Analytiker, Alfred Adler ist dabei und Sándor Ferenczi. Diese Mittwochsgesellschaft ist die Keimzelle der Seelenbewegung. Psychoanalyse als Vereinzelter zu treiben, das weiß Freud, bringt nichts. Die neue Lehre muss in die Welt hinausgetragen werden.
Ohne sexuelle Lust und impotent
Inzwischen lebt auch Marthas Schwester, Minna Bernays, nach dem Tod ihres Verlobten in der Berggasse 19. Sie schläft im gefangenen Raum neben dem Schlafzimmer der Freuds. Muss also stets durch den privatesten Raum von Schwester und Schwager. Mal rein, mal raus. Freud verreist auch mit ihr, der Intellektuellen, die neben Fließ seine engste Vertraute ist und von der viele sagen, dass sie ein Verhältnis mit Freud hatte. Das widerspricht den vielen Aussagen Freuds an Fließ, dem er in Variationen schreibt, dass er ohne sexuelle Lust und impotent sei. Und da ist er gerade mal 40. Minna ist eine Anregerin für Freud, und sie ist nicht so prüde wie Martha, die immer sagt, wenn sie nicht wüsste, wie seriös ihr Mann ist, würde sie denken, er beschäftigt sich mit Pornografie.
Freuds "Traumdeutung" wuchert. Was für ein Stoff, all die Wachträume, Wunschträume, Angstträume, Prüfungsträume, all diese Zuckungen des sonst schlafenden Seelenlebens. Und wie viele Wege gibt es, zu ihnen zu kommen. Einige führen in Freuds eigene Träume. Die meisten aber gehen mitten in die Wiener Gesellschaft, in die erotischen Sehnsüchte und Paniken seiner Patienten. Ihre Erzählungen sind Anstoß zu seinem Monumentalwerk. Da ist der Traum einer jungen Frau von der gebrochenen Kerze, die sie nicht in den Leuchter stecken kann. Das ist die Impotenz des Mannes. Und wie oft erzählen seine Patienten von Nacktträumen, diesen Verlegenheitsträumen: ganz nackt, halb nackt, im Unterrock und im zu kurzen Hemd. Der Träumer geniert sich, aber die Umstehenden nehmen keinen Anstoß. Der Betrüger ist der Traum, schreibt Freud über diese unerlaubten, der Verdrängung geopferten Wünsche. Freud weiß, dass Träume nicht wie Mathematikaufgaben gelöst werden können. Eine Abreise kann Tod bedeuten, ja. Eine überlaufende Badewanne kann heißen, dass da einer überflüssig ist. Messer, Stangen und Dolche haben meist etwas mit Erotik zu tun. Aber alles kann auch anders sein. Denn ein Mensch im Traum ist eine zusammengesetzte Figur, und der Trauminhalt ist ein Rätsel in Bildern.
Die "Traumdeutung" erscheint, und Freud reist erstmals in die Stadt seiner Träume, die sein Held Hannibal nicht erobern konnte: nach Rom. Über Jahre hat er auf seinen Italienreisen vor den Toren der Ewigen Stadt Halt gemacht. Wie Hannibal. Jetzt traut er sich. Rom zu erobern, bedeutet einen Triumph am Sitz der unversöhnlichsten Feinde der Juden, schreibt Peter Gay in seiner glänzenden, klugen Freud-Biografie. In Rom sieht Freud nun den Moses von Michelangelo, den letzten und größten Helden seines Lebens, mit dem er sich bald identifizieren wird.
Endlich erhält er die Professur
Zurück in Wien wird Freud immer noch bei der Ernennung von Professoren übergangen, immer noch ist er Privatdozent. Ja, ich bin wirklich schon 44 Jahre, schreibt er an Fließ, ein alter, etwas schäbiger Israelit. Die Professur kommt zwei Jahre später. Sie kommt auf Drängen einer ehemaligen Patientin, einer Baronin, die den Unterrichtsminister mit einem Ölbild von Orlik besticht. Freud sagt dazu: Bei einem Böcklin wäre es sicher schneller gegangen. Der Titel, notiert er, erhebt den Arzt in unserer Gesellschaft zum Halbgott. Das heißt, Patienten kommen, und Honorare können erhöht werden. Sein Wartezimmer füllt sich also mit der Wiener Oberschicht. Und fast alle sind entzückt von des Professors bezauberndem Humor, und sie schwärmen von seinen braunen Augen, von seinem forschenden Blick, der manchmal so durchdringend ist wie der eines Propheten.
Am 3. März 1907 klingelt ein Bewunderer in der Berggasse 19. Er hat Freuds "Traumdeutung" verschlungen, hat Jubelbriefe an den Autor geschrieben, und nun ist er da, dieser Schweizer Brocken: groß, breit, germanisch, kurz geschorenes Haar, blaue Augen, Intellektuellenbrille, dünner Oberlippenbart - Carl Gustav Jung. Freud ist überwältigt von diesem kraftvollen und klugen Burschen, der die gemeinsame Sache so ungehemmt und dynamisch vertritt. Und so ist Freud entschlossen, den 31-jährigen Analytiker zu seinem Kronprinzen zu machen. Das erklärt er seinen enttäuschten Freunden der Mittwochsgesellschaft so: Jung ist Arier, sie dagegen sind Juden. Und solange ihre Erkenntnisse als jüdische Errungenschaften gelten, werden sie bekämpft werden. Ohne die arischen Genossen, sagt Freud, verfällt die Psychoanalyse dem Antisemitismus. Juden müssen sich bescheiden, Kulturdünger zu sein. Und so schreibt er denn einen Brief an C. G. Jung, schreibt: Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur von der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen.
C.G. Jung und Freud bereisen gemeinsam Amerika
Sie reisen gemeinsam nach Amerika, halten Vorträge über Sexualität und Verdrängung, deuten am Morgen gegenseitig ihre Träume, finden das Land schön, die Leute prüde und die Akademiker nett und neugierig. In ihren Kreisen kann Freud endlich alles, was im Leben als anstößig galt, frei besprechen. Und er hat nach der Reise den Eindruck, dass die Psychoanalyse kein Wahngebilde mehr ist - sondern Realität.
Doch es kommt auch die Zeit der Verletzungen und der Brüche, und die besiegelt Freud in alttestamentarischer Weise. Wie Moses fährt er zwischen seine Freunde, wenn sie fremde Kälber anbeten. Alfred Adler, der Marxist, bezweifelt nicht die Bedeutung der Sexualität, wehrt sich aber gegen ihre Dogmatisierung. Da vollzieht Freud an ihm die Rache der beleidigten Göttin Libido und trennt sich. Und Jung? Der Kronprinz? Er fühlt sich nach Jahren der Anbetung unterdrückt. Und auch er widersetzt sich Freuds Herzstück, der Sexualtheorie, aus der sein Übervater ein unerschütterliches Bollwerk machen möchte. Briefe gehen hin und her. Jung bittet seinen Mentor nach Angriffen immer wieder um Verzeihung: Pater peccavi. Und Freud nennt ihn Alexander den Großen, dem er doch noch so viel zu erobern übrig lässt. Aber Jung, der Romantiker, will allein siegen, will über das ethische Problem der Sexualfreiheit nachdenken, auch, weil seine Ehe mal wieder in einer Krise steckt. Da schreibt der Rationalist Freud: Bei Jung selbst stürmt und tobt es wieder ... erotisch wie religiös. Und verstößt auch ihn.