Wellness & Reise Freie Bahn für das Qi

Morgens ganz früh verhelfen die Menschen in Pekings Parks ihrer Energie zum ungehemmten Fluss: Qigong ist ihre Gegenwelt zum Stress - und beste Vorsorge.

Rund um den "Altar der Erde", einen Park im Zentrum Pekings, geschieht Wundersames: Ein Mann mit faltigem Gesicht und Glatze schreit aus der Tiefe seiner Seele, ein Urschrei, mit dem er schlechte Energie aus seinem Körper hinausbefördert, um dann positive Energie aus dem Kosmos einzuatmen. Greise sitzen im Spagat. Menschen, die sich selbst Erdwürmer nennen, wälzen sich, gehüllt in Plastikfolien, auf dem staubigen Boden. Sie glauben daran, so die Energie der Erde in sich aufzunehmen. In der ersten Morgensonne glänzt die Rinde der Zypressen. Sie ist abgewetzt von den vielen Umarmungen der Parkbesucher. "Wir saugen die Energie der Bäume in uns auf", murmelt einer der Alten.

Wenn die Nacht dem Tag weicht, oder nach dem Verständnis der Chinesen das weiblich-weiche, empfangende Yin dem männlich-harten, aktiven Yang Platz macht, geht es in Chinas Parks immer um das "Qi", die Lebensenergie. Fließt sie ungehindert durch den Körper, erfreut sich der Mensch guter Gesundheit. Qigong, vage als "Arbeit mit der Lebensenergie" übersetzt, soll alle Blockaden beseitigen, die im Körper den freien Fluss des Qi behindern und den Menschen deshalb krank machen.

Kurse und Infos

PTCH - Projekt Traditionelle chinesische Heilmethoden und Heilkonzepte an der Universität Oldenburg, Tel.: 0441/798 47 03, Fax: 0441/798 19 47 03, www.psychologie. uni-oldenburg.de/johann.boelts/ptch/

Medizinische Gesellschaft für Qigong Vangsheng e. V.

, Colmantstr. 9, 53115 Bonn, Tel.: 0228/69 60 04, Fax: 0228/69 60 06, www.qigong-yangsheng.de

SMS Internationale Gesellschaft für Chinesische Medizin e. V.

, Franz-Joseph-Str. 38, 80801 München, Tel.: 089/38 88 80 31, Fax: 089/38 88 80 66, www.tcm.edu

Qigong hat eine mehr als 2000 Jahre alte Traditon, seine Wurzeln liegen in der frühen chinesischen Medizin, im Daoismus und Buddhismus. Es gibt mehrere hundert Stile, darunter auch Meditation und Kampfsport. Im Westen bekannt ist das Tai-Chi, Schattenboxen. Die Namen der Bewegungen klingen poetisch wie kleine Gedichte: "Weiße Kraniche kühlen ihre Flügel", "Grüne Drachen steigen aus dem Wasser", die Übenden halten den Himmel oder tragen den Mond. In Fernsehshows begeistern die Mönche des Shaolin-Klosters mit ihren Kung-Fu-Künsten. Schnell wie der Wind wirbeln sie durch die Luft.

Bewegen wie die Gänse

Im Schatten eines Tempels unterrichten Qigong-Meisterin Li Shuhua und Meister Chen ihre Schüler im "Wildgans"-Qigong. Sie lassen ihre Arme flattern wie Flügel, beugen die Hälse wie Gänse auf der Suche nach Futter. Meister Chen ist 73 Jahre alt, Frau Li, 67, schon lange in Rente. Beide bewegen sich geschmeidig wie 40-Jährige. "Leben ist Bewegung, der Tod Bewegungslosigkeit und Qi der Unterschied zwischen Leben und Tod", haucht Frau Li.

Vor 20 Jahren war sie plötzlich kalt und starr, ihre linke Körperhälfte tot wie die Steinlöwen am Eingang des Restaurants, in dem sie als Buchhalterin arbeitete. Die Ärzte eröffneten ihr, dass sie wohl den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen müsse. Ein Bekannter aber ermunterte Li, es einmal mit Qigong zu versuchen. "Ich hatte den schwersten Schlaganfall von allen Patienten im Krankenhaus, aber dank Qigong machte ich die schnellsten Fortschritte", erzählt sie.

Qigong wird in China bei der Therapie von Krankheiten eingesetzt, seit den fünfziger Jahren gibt es spezielle Qigong-Kliniken. Die Atem- und Bewegungstechnik hilft bei Bluthochdruck, Migräne, Depressionen, Asthma und Schlaflosigkeit. "Eigentlich aber geht es um Vorbeugung", betont Frau Li. "Um gesundes und langes Leben." Ihre Lehrerin Yang Meijun starb im vergangenen Juni mit 101. Noch auf dem Sterbebett praktizierte sie Qigong. Yang war 1,50 Meter klein und gab ihr Wissen über die Balance der "Drei Schätze" - Shen, Geist, Jing, Essenz, und Qi, Lebensenergie - in der 27. Generation weiter. Als sie 95 war, antwortete sie auf die Frage, in welchem Alter sie Perfektion im Qigong erlangt habe, schlicht: "Ich rufe sie an, wenn es so weit ist."

Letzte Hoffnung für Krebskranke

Nach einer Entspannungsübung demonstriert Meister Chen "Zhan Chi, He Chi", die Flügel ausbreiten und schließen (Anleitung siehe rechts). In einer Nachbargruppe versammeln sich Krebskranke, die im Qigong ihre letzte Hoffnung sehen. Sie scheuchen einen jungen Mann weg, den sie für einen Spitzel der Staatssicherheit halten. Seit die Regierung die Falun-Gong-Sekte verboten hat, stehen alle "Gongs" unter Verdacht. "Die Zahl der Praktizierenden im Park ist um 80 Prozent zurückgegangen - dabei haben wir mit den wirren Falun-Gong-Lehren nichts zu tun", klagt Meister Chen. Sein "Wildgans"-Qigong ist immer noch erlaubt.

Für die Menschen hier ist Qigong eine Gegenwelt zum Besser-schneller-weiter der modernen Industriegesellschaft. Auch auf Schönheit kommt es nicht an. "Es geht darum, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind", sagt Meister Chen lächelnd. Genau darin liege die Kraft für Veränderungen.

Matthias Schepp

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