Bricht es jetzt aus ihr heraus? Den ganzen Abend über hat Angela Merkel jeden Vorhalt freundlich beantwortet. Unaufgeregt und gut gelaunt ist sie auf jede der manchmal etwas umständlichen Fragen von Anne Will eingegangen. Doch als das mitlaufende Aufnahmegerät eine Stunde und zwölf Minuten zeigt, weicht das Wohltemperierte in Merkels Vorstellung dann doch einer gewissen Hitze. Nachdem sie sich alles Mögliche anhören musste, was sie falsch gemacht haben soll, sagt sie mit einer gewissen Verve in der Stimme: "Ich könnte jetzt auch mal auspacken." Es klingt wie eine Drohung. Mal schauen, was da kommt.
Buchvorstellung im Deutschen Theater Berlin am Dienstagabend. Hört sich ein bisschen klein an. Es ist die Weltpremiere für die Erinnerungen der früheren Bundeskanzlerin. Überlebensgroß hängt ein Bild des Buchtitels "Freiheit" über der Bühne. Und drunter sitzt die Rentnerin Merkel, die sich im ganzen Auftritt kaum unterscheidet von der Kanzlerin Merkel. Im Publikum lauschen Weggefährten wie der langjährige Unions-Fraktionschef Volker Kauder. Ulrich Wilhelm und Thomas Steg, die ein Kandidat bei "Wer wird Millionär" einst für die Kastelruther Spatzen hielt, die aber Merkels Regierungssprecher waren, sitzen einträchtig nebeneinander. Klassentreffen. Auch Merkels Mann Joachim Sauer ist da, der als Kanzlergatte überaus öffentlichkeitsscheu war. Er trägt eine FFP2-Maske.
Angela Merkel und Anne Will – ein erfahrenes Talk-Duo
Anne Will und Angela Merkel kennen sich lange. In Wills Talkshow ist die Kanzlerin meist gegangen, wenn sie sich in Krisensituationen im Fernsehen erklären wollte, besonders in Zeiten der Flüchtlingskrise. Und ein bisschen ist es ja jetzt auch wieder so. Merkel hat ein Buch über ihr Leben und ihre Arbeit in der Politik geschrieben, und allenthalben wird herumgemosert, sie weiche der Kritik aus: an ihrer Russlandpolitik, an ihrer Energiewende, an ihrer Verantwortung für den schlechten Zustand der Bundeswehr, der Brücken, der Bahn und der Digitalisierung. Also spricht sie mit Anne Will darüber.

Das heißt, sie wird später mit ihr darüber sprechen, denn Will fängt ganz vorne an, in Merkels Kindheit und Jugend und kommt alsbald zu der Episode, als Angela Merkel, damals noch Angela Kasner, nach dem Abitur betrunken in einen "Baggersee" gefallen ist. Es war ein "eiszeitlich geschaffener See", korrigiert Merkel sofort. Das ist nur eine Kleinigkeit, aber doch ein typischer Merkel-Moment. Erstens: Sie nimmt es genau. Zweitens: Sie formuliert wie eine Physikerin, nicht wie eine Schriftstellerin. Drittens: Ihre trockene Intervention löst im Publikum einen Lacher aus, der Merkel irritiert. Sie hat Witz. Aber manchmal hat der Witz auch sie.
Wie Angela Merkel das erste Mal ins "Tagesschau"-Kabinett kam
Angela Merkel kann sehr unterhaltsam erzählen: Anekdotisch, wenn sie sich an ihre erste Kabinettssitzung erinnert mit all den westdeutschen Männern rund um Helmut Kohl, die sie bis dahin nur aus der "Tagesschau" kannte. Persönlich, wenn sie über Wolfgang Schäuble redet, der immer für klare, wenn er es für nötig erachtete auch warnende Ansagen war, während sie eher vom zuversichtlichen "Wir schaffen das" komme. Witzig, wenn sie manche Abschätzigkeit, die ihrer ostdeutschen Herkunft entgegengebracht wurde, mit dem Satz abtropfen lässt, immerhin habe es gereicht, um 16 Jahre Bundeskanzlerin zu sein. Das alles fällt an diesem Abend auch deshalb besonders auf, weil ihr Buch weitaus trockener geschrieben ist. Am meisten hat man von Merkels Memoiren, wenn man sich dazu die Interviews reinzieht, die sie rund um den Erscheinungstermin gegeben hat. An den Knochen ihrer Berichte hängt dann einfach mehr Fleisch.
Das gilt auch am Ende, als Anne Will sie mit der Kritik konfrontiert und nach Fehlern fragt. Merkel kontert, sie habe nie den Anspruch erhoben, das Land in einem "Tip-Top-Zustand" hinterlassen zu haben. Beim Klimaschutz sei sie nicht so weit gekommen, wie sie sich vorgestellt habe. Und gescheitert sei sie auch in dem Bemühen, den russischen Präsidenten Wladimir Putin von einer Aggression gegen die Ukraine abzuhalten. Es sind Zugeständnisse, mit denen sie auf die Kritik eingeht: "Ich entblöße mich ja", sagt Merkel an einer Stelle.
Merkels Haltung: Defizite ja, Fehler nein
Je länger man zuhört, desto klarer wird Merkels Haltung: Sie räumt ein, dass sie manches nicht geschafft habe. Aber sie weigert sich, darin persönliche Fehler zu sehen. "Wenn's hilft, soll man sagen: Merkel war's", sagt Merkel. Sie argumentiere aus der jeweiligen Zeit heraus, in der sie Entscheidungen getroffen habe. Nur um den Erwartungen gerecht zu werden, werde sie aber nicht zurückschauen und so tun, als falle es ihr jetzt wie Schuppen von den Augen, was sie falsch gemacht habe.
Es ist der Zeitpunkt ihrer größten Aufwallung. Vor allem beim Zustand der Bundeswehr fühlt sie sich regelrecht unfair behandelt. Denn es seien die SPD und auch die Grünen gewesen, die sich der Modernisierung der Streitkräfte immer entgegengestellt hätten, ganz sicher nicht die CDU. Und es seien die Grünen gewesen, die über den Bundesrat stets verhindert hätten, dass einige Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, was einige Probleme der Migrationspolitik von heute verhindert hätte. "Dann kann man ja sagen, ich habe mich nicht durchgesetzt, ok", findet Merkel, die jetzt sehr schnell spricht, "aber alles andere zu vergessen, das finde ich dann auch nicht in Ordnung." Und dann sagt sie den schönen Satz: "Ich könnte jetzt auch mal auspacken", und man freut sich schon darauf. Aber dann lässt sie's doch. "Es hilft ja nichts."
In ihrer Selbstbeherrschung ist eben auch die Rentnerin Merkel immer noch ein bisschen die Kanzlerin Merkel.