Sie faltet die Bluse zusammen und verstaut sie in einer schwarzen Nylontasche. Mit einem Ruck schließt sie den Reißverschluss, sie atmet tief durch und sagt: "Meine Eltern leben in Dubai. Sie machen sich Sorgen und haben mich gebeten zu kommen." Rania Shukri ist eine zierliche junge Frau mit schmalem Gesicht. Sie will sich in Dubai nach einem Job umschauen. "Der Libanon ist kein Ort, an dem ich mir eine Zukunft aufbauen kann", sagt sie. Vor dem Fenster ihres Wohnzimmers breitet sich das Beiruter Stadtviertel Mazraa aus. Eine Kette von Wohnblocks zeichnet sich gegen den dunkelblauen Abendhimmel ab.
Mazraa liegt im westlichen Teil der Hauptstadt. Hier brachen jüngst die schweren Gefechte aus, als die Hisbollah sich zu einem bewaffneten Aufstand erhob. Die Kämpfer der Schiitenbewegung und sunnitische Regierungsanhänger gingen mit Maschinengewehren und Panzerfäusten aufeinander los. Die Hisbollah nahm die gesamte Weststadt innerhalb einer Nacht ein. Landesweit sind während der Unruhen mindestens 82 Menschen ums Leben gekommen. Damit ist auf den Straßen der Städte und Dörfer ein langwieriger politischer Streit eskaliert: Mit ihrem Machtkampf haben die prowestliche Regierung und die Opposition unter Führung der Hisbollah das gesamte Land gespalten.
Das Nachbarskind wäre beinahe getroffen worden
"Es waren schreckliche Tage. Bei meiner Nachbarin kam eine Kugel durchs Fenster und hat ihr kleines Kind getötet", erzählt die 31-Jährige. Sie ist Biologielehrerin, doch ihre Schule bleibt vorerst geschlossen. "Im Moment können wir die Sicherheit der Kinder nicht garantieren", sagt sie - sunnitische und schiitische Schüler sitzen gemeinsam in den Klassen. "Wir haben es versucht, aber dann gemerkt: Es geht einfach nicht." Die Schüler hätten einander Beleidigungen entgegen geschrien. Einige schlugen zu. "Die Stimmung unter den Kindern ist polarisiert, die können nicht einmal mehr miteinander reden." Sie greift ihre Reisetasche und eilt die Treppen des Hauses herunter. Im Schatten eines Gebäudes am Ende der Straße sind die Umrisse von rund zehn Gestalten zu erkennen: Jeden Abend finden sich die jungen Männer überall in den Vororten zu Nachbarschaftswachen zusammen. Die Lehrerin hastet an dem Posten vorüber, ohne den Blick zu wenden.
Das Einkaufsviertel Hamra liegt nur wenige Minuten Fahrt von Mazraa entfernt. Auf den ersten Blick weist nichts mehr darauf hin, dass hier noch vor einer Woche ein Schlachtfeld lag: Studenten hocken bei Starbucks und schlürfen Latte Macchiato, junge Mädchen stöckeln in die Filialen internationaler Modeketten. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man überall die Spuren des Krieges. Einschusslöcher in Schaufenstern, Patronenhülsen auf dem Asphalt. Und überall dasselbe Symbol, das Logo der Syrischen Sozialistischen Nationalen Partei (SSNP). Hamra ist eine Hochburg der sunnitischen Mehrheitspartei al Moustakbal; ihren Unterstützern ist Syrien verhasst. Nun ist das feuerrote Zeichen der SSNP hundertfach an die Fassade ihrer Geschäfte und Häuser gesprüht.
Die Machtverhältnisse haben sich geändert
Die SSNP kämpfte an der Seite der Hisbollah. Ihre Symbole erinnern deutlich daran, dass sich die Machtverhältnisse geändert haben: Mit dem militärischen Durchmarsch der prosyrischen Opposition ist der Einfluss der früheren Protektoratsmacht drei Jahre nach dem erzwungenen Truppenabzug wieder sprunghaft gestiegen. Zwei Männer mit schwarzen Bärten hocken auf einer schmuddeligen Couch zwischen den Zapfsäulen einer still gelegten Tankstelle. Es ist ein Stützpunkt SSNP, von hier aus hält die Partei das Viertel im Blick.
Ein weiterer Mann lehnt an der Rückwand der Tankstelle. Sein Kreuz ist sehr breit, seine Arme sehen nach intensivem Bodybuilding aus. Seinen Namen will er nicht verraten, nennen wir ihn also Fadi. Natürlich, sagt er, weiß er, dass die Partei mit ihren Graffitis und Flaggen die Anwohner brüskiert. "Die Leute halten uns syrische Spione", sagt der 18-Jährige. "Wir wollten ihnen aber zeigen, dass wir jetzt wieder da sind."
Fadi studiert Politik an der nahe gelegenen American University Beirut. An den Wochenenden trainiert er den Umgang mit Waffen, um als freiwilliges Mitglied der SSNP-Miliz nützlich sein zu können. "Meine Mutter mich daran hindern mitzukämpfen", sagt er und lächelt stolz: "Ich bin aber einfach gegangen." Tatsächlich sei es dann aber gar nicht schlimm gewesen: Seine Gegner hätten nur wenig Widerstand aufgebracht: "Das sind Männer ohne Überzeugung. Deshalb können die gar nicht richtig kämpfen." +
Elf seiner Parteigenossen wurden hingerichtet
Er ist sich sicher, dass weitere Zusammenstöße kommen werden: Der Student erzählt, dass Regierungsanhänger im Nordlibanon elf seiner Parteigenossen hingerichtet und ihre Leichen verstümmelt haben. "Da werden wir natürlich noch was machen müssen", murmelt er. Konkret heißt das, die SSNP plant einen Vergeltungsschlag. "So ist das eben", meint Fadi nüchtern, "Es gibt eine Reaktion, dann noch eine, und am Ende eskaliert die Gewalt."
Wer von Hamra aus Richtung Osten fährt, überquert nach wenigen Minuten die Greenline, entlang derer Beirut während der Bürgerkriegsjahre 1975 bis 1990 in einen christlichen Osten und einen muslimischen Westen brach. Hier endet der Stadtbereich, den die Hisbollah unter ihre Kontrolle gebracht hat. Die Christen hielten sich aus den jüngsten Gefechten heraus. Der Alltag in Ostbeirut ging daher nahezu unverändert weiter.
"Ich muss in solchen Situationen Party machen"
Direkt hinter der Greenline liegen die glitzernden Bars und Nachtclubs der Partymeile Gemmayze. Während der Unruhen blieben nur zwei oder drei geöffnet. Die Torino-Bar war an jedem Abend voll. "Ich muss in solchen Situationen Party machen", sagt Cedrelle Abu Farhat, "das gibt mir ein Gefühl der Normalität." Die 27-jährige Fernsehproduzentin hat schulterlange Locken und ein offenes, freundliches Gesicht. "Außerdem ist meine Freundin gerade zu Besuch und das müssen wir feiern."
Nour Samaha ist Journalistin und lebt seit vergangenem Oktober in Abu Dhabi. "Im Libanon warten alle ab, dass die Lage sich entspannt", sagt die hoch gewachsene 26-Jährige. "Die Wirtschaft stagniert, weil niemand investieren will. Alle gut ausgebildeten jungen Leute sehen daher zu, dass sie wegkommen." Cedrelle Abu Farhat erzählt, dass in ihrer Firma tagelang lang niemand arbeitete. Die Mitarbeiter saßen von morgens bis nachmittags um einen Fernseher und verfolgten die Nachrichten. "Ich rechne damit, dass über kurz oder lang ein neuer Bürgerkrieg ausbricht", sagt sie. "Ich weigere mich aber auch, in einem permanenten Zustand der Angst leben." Sie lächelt dünn und nimmt einen Schluck Gin Tonic aus ihrem Glas. Aus den Lautsprechern über der Bar dröhnt 70er-Jahre-Soul. Als das Lied endet ist zu hören, wie irgendwo Schüsse aus einem Maschinengewehr fallen.