Der Konditormeister Michele Somma hatte einen besonderen Moment gewählt, um seine Entscheidung kundzutun. Lange hatte er mit sich gerungen und dann den Entschluss gefasst, der sein Gewissen erleichtern, ihn aber auch um seinen Schatz bringen sollte.
Der Bauernsohn aus Gragnano südlich von Neapel war mit dem Madonnen-Bild groß geworden, der Großvater hatte es einst dem Vater weitergereicht. Die Sommas lebten seit drei Generationen mit dem Gemälde, das Bild hing im Wohnzimmer der tiefgläubigen Familie und gehörte zu ihnen wie ihre Bauernmöbel.
Mitten im Trubel der nächtlichen Prozession beim Dorffest "Madonna delle Grazie" am 17. September rief Somma dann die Dorfautoritäten zu sich. Bürgermeister Nello D'Auria, Vizebürgermeister Andrea Gaudino und natürlich den Pfarrer. Er teilte ihnen seinen Entschluss mit. Er wolle das Gemälde abgeben. "Es flossen Tränen und wir haben uns umarmt", sagt Gaudino heute über den Moment.

Denn das Gemälde, es ist nicht irgendein Bild – sondern ein seit mehr als fünf Jahrzehnten verschollener Botticelli: "Madonna mit dem Kind". Schätzwert: 100 Millionen Euro.
Es sei Somma nicht leichtgefallen, sich von der "Madonna" zu trennen, erzählt Vizebürgermeister Gaudino weiter. Aber Somma habe gewusst, dass er das Bild nicht für immer behalten könne. Gaudino sei der Familie Somma jedoch dankbar, dass sie es über Jahrzehnte gehütet und nicht etwa auf dem Schwarzmarkt verkauft habe.
Im Dorf wusste jeder Bescheid
Je länger man sich mit Gaudino unterhält, umso klarer wird: Jeder in Gragnano wusste Bescheid, dass das Kunstwerk in Obhut der Familie Somma war. Für niemanden war das eine große Sache. Keinen schien es zu kümmern. Aber für die Fachwelt galt das Spätwerk des Renaissancemalers Sandro Botticelli (1445–1510) als verschollen. Dass es sich bei dem Gemälde um einen Botticelli handelt, ist dokumentiert. Der britische Kunsthistoriker Ronald Lightbown etwa erwähnt das Werk in seiner umfassenden Botticelli-Biografie.
Ob die Familie Somma rechtmäßig im Besitz von Botticellis Madonna war, muss nun die Sondereinheit der Carabinieri für den Schutz des Kulturerbes Neapel klären.
Botticelli hatte die "Madonna mit dem Kind" um 1470 gemalt und das Werk Papst Sixtus IV. geschenkt. Die Madonna auf dem Bild sei Botticellis Muse und Geliebte Simonetta Cattaneo Vespucci, glaubt der Kunsthistoriker Giuseppe Di Masa. Sixtus verschenkte das Bild weiter an die Familie Medici, die Ländereien in der Gegend von Neapel erworben hatte und in deren Gunst Sixtus gelangen wollte. Die Medici wiederum übergaben das Bild einer kleinen Gemeinde, die heute zu Gragnano gehört.

In der Kirche "Santa Maria delle Grazie" hing die Madonna jahrhundertelang über dem Altar. Als die Kirche in den 30-Jahren geschlossen wurde, vertrauten die Geistlichen das Bild Michele Sommas Großvater an. "Die Sommas wohnten nebenan, sie waren einfache Bauern und sehr religiös", sagt Gaudino. Der Großvater habe ein Dekret zur Aufbewahrung bekommen. Nach Ablauf der Frist wurde das Dekret noch zweimal erneuert, so Gaudino. Was dann geschah, ist unklar. Das Bild blieb in der Familie und niemand kümmerte sich darum.
Großvater Somma sei sich des materiellen Wertes nicht einmal bewusst gewesen, sagt Gaudino. Das Bild wurde schließlich bis in die 50er Jahre hinein zur Prozession der "Madonna delle Grazie" unter freiem Himmel durchs Dorf getragen. Es hatte religiösen Wert. Micheles Vater habe hingegen verstanden, welches Kunstwerk in seinem Wohnzimmer hängt. "Als alter Mann ist er nicht mehr aus dem Haus gegangen, er wollte nur zuhause den Botticelli bewachen", sagt Gaudino.

Die Situation war kompliziert: Die Sommas wollten sich keinesfalls bereichern – rausrücken wollten sie das Gemälde aber auch nicht.
Kunstraub ist in Italien ein großes Thema. Laut einer Statistik wurden 2017 in Italien insgesamt 6255 Gemälde, Skulpturen und Antiquitäten aus Museen, Privatsammlungen und Kirchen gestohlen. Vor allem die Mafia benutzt den Kunstmarkt für Geldwäsche und Investitionen.
Das organisierte Verbrechen kontrolliert den Schwarzmarkt, mischt aber oft auch bei legalen Verkäufen mit, die nicht immer transparent sind. Unter den Clans gelten Kunstschätze als sichere Investition, sie verlieren nicht an Wert und werden meistens bar bezahlt. Sie eignen sich für Geldwäsche, aber auch für Spekulation.
In Castellamare di Stabia, unweit von Gragnano, beschlagnahmten Ermittler 2016 zwei Gemälde des niederländischen Malers Vincent Van Gogh während einer Hausdurchsuchung bei einem Drogenbaron der neapolitanischen Mafia-Organisation Camorra.
Die "Madonna mit dem Kind" ging nun freiwillig aus dem Privatbesitz in den Besitz der Kulturbehörde Neapel über. Der Zustand des Gemäldes ist schlecht. Die Oberfläche ist voller Staub, Schmutz und zahlreicher Risse. Im Laufe der Zeit wurden mehrere Schutzschichten auf die Ölfarbe gestrichen. Diese unsachgemäßen Glasuren oxidierten mit dem Ölfilm.
Das wiedergefundene Werk soll nun in die Hände von spezialisierten Restauratoren für Renaissance-Malerei nach Florenz kommen, die Aufarbeitung mindestens ein Jahr dauern. Dann wird Botticellis Madonna wohl in einem Museum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – nicht mehr nur in einem Wohnzimmer.