China "Marx sei Dank"

Der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmensberater Cao Siyuan gilt als Chinas provokantester Advokat einer radikalen politischen Reform. Sein Vorstoß, Partei und Regierung voneinander zu trennen, klingt revolutionär.

Wie soll die Volksrepublik künftig regiert werden?

Von einem gewählten Präsidenten an der Spitze, ähnlich wie die USA. Die Kommunistische Partei hat 66 Millionen Mitglieder, China 1,3 Milliarden Einwohner. Also müsste die Partei der Diener sein, während das Volk am Tisch sitzt und speist. Im Moment ist es umgekehrt: 1, 3 Milliarden bedienen 66 Millionen. Die Partei thront über allem.

Wie wollen Sie das ändern?

Vor allem müssen wir Partei und Regierung voneinander trennen. Hu Jintao, der Nachfolger von Jiang Zemin, sollte sein Amt als Parteivorsitzender aufgeben, wenn er nun Präsident wird. Wir brauchen Gewaltenteilung. Neben der Regierung, dem Parlament, das die Gesetze erlässt, und einer unabhängigen Justiz, sehe ich die Presse als vierte Gewalt. Die ersten drei Gewalten gibt das Volk an die Autoritäten ab, die der Presse übt es selbst aus.

Wollen Sie Wahlen wie im Westen?

Ja, ich will ein Mehr-Parteien-System. Zur Zeit gibt es Wahlen nur auf der untersten Ebene. Die Landbevölkerung kann den Dorf-Bürgermeister wählen und den Kreis-Chef. Ich schlage zusätzlich Wahlen von oben nach unten vor. Erst den Präsidenten, dann die Führer der Provinzen.

Das klingt revolutionär.

Ich will friedliche Reformen.

Warum sollte die Partei freiwillig einen Teil Ihrer absoluten Macht aufgeben?

Einfach, weil sie an der Macht bleiben will. Die Menschen sind wütend über die Korruption. Es hilft nicht ein paar Funktionäre zu bestrafen. "Tausende wachsen nach", schimpft das Volk. China braucht ein anderes politisches System. Wenn wir Gewaltenteilung haben, wird die eine Gewalt die andere kontrollieren, die Justiz die Regierung, wenn sie korrupt ist. Es ist wie mit einem Fluss. Die Verschmutzung beginnt am Oberlauf. Bis heute kümmern wir uns nur um den Unterlauf. Wir müssen aber von der Spitze reformieren.

Sonst wird die Kommunistische Partei weggespült?

Ja, in einer großen Flut. Ich halte aber einen Aufstand wie bei den Studentenprotesten von 1989 für unwahrscheinlich. Die Partei wird Reformen wollen, weil sie das einzige Mittel sind, die eigene Herrschaft zu sichern.

...mit dem Risiko, sich wie in der Sowjetunion selbst zu entmachten?

Das ist der Preis. Wer ihn zahlt, kann in die Geschichte eingehen.

Könnte Hu Jintao Chinas Gorbatschow werden?

Wenn nicht Hu Jintao, dann Li Jintao oder ein Wang Jintao oder irgendwer.

Denken viele in der Partei wie Sie?

Vielleicht die Hälfte der chinesischen Elite. Ich bin ein Optimist mit Realismus. Ich schlage vor, dass sich die Partei in Sozialdemokratische Partei umbenennt.

Das klingt unwahrscheinlich.

Das wird sicher in den nächsten fünf bis zehn Jahren passieren. Jeden Tag scheint die Sonne und Nachts der Mond. Dass einige dagegen sind, ändert daran nichts.

Sind Ihre Forderungen beim Volk populär?

Ja, viele denken so. Aber sie wagen nicht, es auszusprechen.

Ist das Entwicklungsland China nicht noch zu arm, um Demokratie einzuführen?

Ohne Demokratie kann es kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum geben. Das chinesische Volk hat den Kelch doch schon einmal zur bitteren Neige leeren müssen, als Mao unser Land in eine Hölle verwandelte. Während des Großen Sprungs nach vorne starben 48 Millionen. Das war eine menschengemachte Katastrophe, weil ein Kopf unkontrolliert über damals 800 Millionen Glieder herrschte.

Ist China so frei, dass Sie offen für Demokratie eintreten können?

Ihrem Landsmann Marx sei Dank. Wenn ich Artikel schreibe, beziehe ich mich auf ihn. So fällt es der Regierung nicht so schwer, meine Ideen zu akzeptieren.

Dissidenten, die Ähnliches fordern, sitzen aber im Gefängnis.

Nach den Studentenunruhen von 1989 wurde ich ein Jahr weggesperrt, weil ich für eine friedliche Lösung gekämpft hatte. Dann hat man mich frei gelassen. Ich hatte gegen kein Gesetz verstoßen.

Hören Chinas Führer heute auf Sie?

Manchmal werde ich kritisiert. Manchmal übernimmt man meine Vorschläge, nachdem man sie zuvor kritisiert hat. Wie zum Beispiel das von mir konzipierte Bankrott-Gesetz. Jiang Zemin habe ich bei einer Konferenz mein Buch über Privatisierung geschenkt. Er mag meinen Standpunkt nicht teilen. Aber in diesem Punkt bin ich der Lehrer und der Präsident ist mein Schüler. Eine Regierung, die nicht lernt, ist eine schlechte Regierung.

Was halten Sie davon, dass Jiang die KP für Privatunternehmer, also für Kapitalisten geöffnet hat?

Eine gute Sache!

Aber doch wohl kein Marxismus mehr?

Der Marxismus entwickelt sich ständig weiter. Marx hat "Das Kapital" 1883 geschrieben. Lebte er im Jahr 2003, würde er Jiang Zemins Schritt gutheißen. Weil Marx jetzt nicht mehr sprechen kann, spreche ich für ihn.

Interview: Hans-Hermann Klare und Matthias Schepp