Einmal Shanghai, bitte! Modeglück "Made in China"

Von Tilman Wörtz
Die Chinesen sind Weltmeister im Imitieren westlicher Kleidung. Was Firmen und Patentämter zur kollektiven Weißglut treibt, ist für modebewusste Shanghai-Besucher das Paradies - wenn da die Rosetten nicht wären.

Es ist Sonntag Nachmittag und Melanie muss sich beschweren: Ihr Louis Vuitton-Kleid ist nicht gelungen. Es war zwar billig, 20 Euro, aber der Werksvertrag wurde nicht erfüllt: An dem grünseidenen Oberteil wurden zierende Rosetten angebracht, um den Stoff zu spannen und so die Kurve in der Hüfte hinzukriegen. "Sieht das etwa sooo aus?!" fragt Melanie und zückt eine Mappe mit herausgerissenen Seiten aus diversen Frauenmagazinen. Darin hat sie alle Fotos von Röcken und Abendkleidern, Jacketts und Blusen gesammelt, die ihr in dieser Saison besonders gut gefallen. "Chiffonrock zu straffem Stretch-Oberteil, das ist doch gerade der Witz bei dem Schnitt!"

Das Bild mit dem Louis Vuitton-Kleid hat Melanie der Schneiderin auf dem Dong Jia Du-Markt gezeigt, bevor diese Maß nahm. Melanie ist groß und schlank. Ihr wird das Kostüm ausgezeichnet stehen. Aber die Rosetten?

Der Dong Jia Du-Markt ist ein Bazar mit einer Schneiderstube an der anderen, die vom traditionellen Qipao bis zum Smoking nach Maß konfektionieren - und das spottbillig. Stoffe und Farben der Saison, im Hinterland produziert, schaffen die Schneider an die Modefront. Sie fahren Cordbahnen aus und vermessen Tüllschleier, feilschen lautstark mit ihren Kunden und lassen in allen Farben und Formen Probe laufen. Ein Schmetterlingsballett der Schnäppchenjäger.

In Shanghai gibt es viele Treffpunkte der deutschen Community: der Stammtisch im Paulaner-Bräuhaus, das Kaffeekränzchen, der monatliche Kinoabend im Goethe-Institut und Bars wie "Fresh Element" (da habe ich Melanie vor einer halben Stunde kennengelernt). Aber nirgends treffen sich so viele Deutsche wie Sonntag Nachmittag am Schneiderstand Nummer 220 auf dem Dong Jia Du-Markt.

Der Stand

gehört Sheryl, einer zierlichen Schneiderin, die fließend Englisch spricht. Deshalb bestellen Michaela, Stewardess bei Lufthansa, oder Tobias, Praktikant vom Transrapid-Konsortium, bei ihr. Er hat seine Geschäftsgarderobe generalüberholt: fünf Anzüge á 25 Euro und zehn Hemden. Auch seine Freundin kommt mit neuem Shanghai-Schick nach Deutschland zurück.

Allerdings hat auch Sheryl ihren Marktwert erkannt und für Sonderwünsche die Preise erhöht. Melanie wollte deshalb einen neuen Stand ausprobieren, im Parallelgang des Bazars. Und jetzt also die Rosetten. Melanie fragt mich: "Wie sieht's bei dir im Kleiderschrank aus?" Ich habe genau einen Anzug für alle Gelegenheiten. Sie sagt: "Gib ihn sofort Sheryl und lass ihn kopieren. Wenn du schick werden willst, bist du hier genau richtig." Das sagt sie so überzeugend, dass ich keinen Moment an ihrer Kompetenz zweifle.

Melanie steuert

Stand 257 an. Sie legt ihr Kleid der Schneiderin vor und zeigt vorwurfsvoll zuerst auf die Rosetten, dann auf Louis Vuittons Vorlage. Nichts zu machen, sagt die Schneiderin, der richtige Stretch-Stoff war nicht zur Hand. Zu Melanies Unmut gesellt sich ein Schreck: An der Stange unter der Decke hängen bereits zwei weitere Anfertigungen ihres Modells. Eine dicke Amerikanerin hatte beim Bummeln Melanies Kleid gesehen und sofort nachbestellt. In Übergröße und mit Rosetten.