Ob ich die Kamera nicht doch noch gegen ein Gewehr tauschen will, fragt Pressefeldwebel Harper zum Abschied und zeigt sein breites South-Carolina-Grinsen. Der Osprey, eine Mischung aus Helikopter und Flugzeug, öffnet da bereits seine Heckklappe. Eine kleine Hauptgefreite mit Ohrenschützern und Warnweste winkt zum Einsteigen. "Stay save and keep your head down", ruft der Seargent hinterher - und lächelt nicht mehr. Heil bleiben und Kopf einziehen. Die neun Männer und zwei Frauen, die mit mir ihr Gepäck auf das Rollfeld schleppen, wirken cool und abgeklärt. Ich bin es nur äußerlich. Schließlich bin ich mit den US Marines im Einsatz in Afghanistan.
Flug 091 bringt uns zu einem Außenposten. Die kleine Garnison, die den Namen Delhi trägt, wirkt aus der Luft wie ein Indianer-Fort aus dem Wilden Westen. Keine 500 Meter im Quadrat, gesichert durch Steinwälle, Stacheldraht und Wachtürme. Dahinter ist Feindesland. Es die provisorische Heimat des 2. Bataillons der 1. Division der Marines. Von diesem Stützpunkt aus kontrollieren die knapp 1100 Männer und eine Handvoll Frauen den grünen Gürtel des Helmand-Flusses, vom Verwaltungsstädtchen Garmshir südwärts bis kurz vor die pakistanische Grenze.
Major Tenney, der stellvertretende Bataillonskommandeur, weist mich ein. Seit April 2008 ist die Division hier im Einsatz. Sie löste damals die Briten ab, die hier quasi auf verlorenem Posten kämpften. Die knapp 100 Soldaten hätten keine Chance gehabt, die Kontrolle über diese Taliban-Festung zu gewinnen, ist sich der Major sicher. Hohe Verluste und kein Fortschritt - dies sei die britische Bilanz nach 18 Monaten gewesen. Übrig blieb nur ein Denkmal für die Gefallenen und einige Fotos von Prinz Harry, der für wenige Wochen seinen Dienst in Camp Delhi versah.
Das nächste Lager ist noch dreckiger
Die Marines hätten das geändert, meint der Major wenig bescheiden - und wirkt sehr überzeugend dabei. In schweren Gefechten hätten seine Männer die aufständischen Taliban in zwei Jahren immer weiter nach Süden und in die Randgebiete der fruchtbaren Ebene drängen können. Dass dies nicht billig zu haben war, bezeugen Gedenktafeln an einer Wand des Raumes. 51 Namen sind dort eingebrannt.
Am nächsten Morgen geht es weiter in Richtung Süden. Eine Patrouille aus sechs gepanzerten Fahrzeugen bringt mich zur Patrol Base May. Das Lager ist noch kleiner und dreckiger als das zuvor. Keine Küche, keine Waschräume und kein Lazarett. Die nächsten 20 Tage wird dies meine Bleibe sein. Von hier aus werde ich über den Kampf der Marines berichten.
Am folgenden Nachmittag geht es per Fußpatrouille westwärts bis zum Hauptstrom des Helmand-Flusses und zurück. Etwa sechs Kilometer in vier Stunden. Gunnery Seargent Limpert mahnt zur Wachsamkeit und geht Extremsituationen durch: Hinterhalt, Sprengfalle, Verwundete. Wegen der tief hängenden Wolken rechnet Limpert mit Feindkontakt. Die Taliban glauben, dass dann die Piloten der Helikopter und Kampfjets der Amerikaner nicht gut sehen und deshalb keine Unterstützung geben können. Ein Irrglaube.
Marc Lindemann
Er war Nachrichtenoffizier, ist studierter Politologe und vor allem ausgewiesener Afghanistan-Fachmann. Kürzlich erschien Marc Lindemanns Buch "Unter Beschuss - Warum Deutschland in Afghanistan scheitert", in dem er mit dem Einsatz am Hindukusch abrechnet. Derzeit ist der 32-Jährige mit den US Marines als Berichterstatter in Afghanistan unterwegs. In mehreren Folgen schreibt er für stern.de von dem harten Alltag der Truppen.
Die Gruppe verlässt den Stützpunkt in strikter Reihe. Gefreiter Danny Morales geht mit dem Minensuchgerät voran. Er scannt den Weg nach versteckten Sprengladungen ab. Mitte Januar verlor einer ihrer Kameraden durch diese hinterhältige Waffe ein halbes Bein. Weitere fünf Marines folgen Morales, bewaffnet mit Sturm- oder Maschinengewehr, Granatwerfer und Handgranaten, danach der Patrouillenführer und der Rest der Gruppe. Ich selbst kann mich frei bewegen, solange ich nicht den gesicherten Pfad verlasse. Passiert es dennoch, vielleicht um ein gutes Foto zu machen, gibt es sofort klare Anweisungen: "Pass auf Deine Füße auf... Zurück in die Reihe, Marc!" Die Landschaft ist bereits zu dieser Jahreszeit grün. Der erste Mohn sprießt. Die Bewässerungsgräben, die das Gelände durchziehen, sichern den Menschen kärgliches Leben. Die weit verteilten Dörfer bestehen meist aus Lehmhäusern mit Flachdächern, geschützt durch hohe Mauern. Auf einmal wird es hektisch, auf einem der Gehöfte schlägt der Minensucher an. Die Soldaten gehen in Stellung. Mit dem Messer beginnt Morales, die verdächtige Stelle aufzugraben. Langsam tastet sich der 21-Jährige voran. Stück für Stück. Die sogenannten IED, die Improvised Explosive Devices, werden immer tückischer, erklärt mir Gunnery Sergeant Limpert.
Der "Gunny", wie ihn alle nur rufen, hat zwei Einsätze im Irak hinter sich. Dies ist sein erster in Afghanistan. Was anders ist? Die Taliban seien besser organisiert als die Aufständischen am Euphrat, dafür aber schlechter ausgerüstet. Die Sprengfallen hier seien zumeist "homemade" - selbstgebastelt. Düngemittel, oft aus Beständen internationaler Agrarprogramme, ein paar Drähte, eine Batterie. Das ist alles, was die Gotteskrieger brauchen, um einem Soldaten schwerste Verwunden zuzufügen oder ihn zu töten.
Nach zwanzig Minuten funkt Morales dem "Gunny" das Ergebnis. Nichts gefunden, aber der Detektor schlägt immer noch an. Die Marines vermuten, dass es sich um eine Ladung innerhalb des Hofes handeln könnte. Sie kennen das bereits. Ein solches IED ist dann so stark, dass es seine tödliche Wirkung durch die Mauer hindurch entfaltet. Limpert fordert Verstärkung an. Als die endlich eintrifft, hat die Nervosität der Gruppe merklich zugenommen. Dass der Hof verlassen ist, verstärkt ihre Skepsis. "Wir sind schon viel zu lange hier. Das ist nicht gut", meint der "Gunny". Mittlerweile zeigen sich immer mehr Einwohner aus den umliegenden Dörfern. Mancher trägt einen schwarzen Turban – das Symbol der Taliban. Sie halten Abstand, einer telefoniert, ein anderer kramt in einem großen Plastiksack. Der "Gunny" befiehlt trotzdem, das Gehöft zu durchsuchen. Nach weiteren 20 Minuten kommen die Entschärfer wieder heraus. Sie fanden lediglich ein Loch in der Erde mit ein paar Munitionskisten und einem Metallrohr, aber keinen Sprengstoff. "Nur ein altes Waffenversteck", vermutet Limpert.
Es ist bereits dunkel, als wir mit durchnässten Stiefeln und Hosen wieder das Lager erreichen. Auf dem Rückmarsch war ein Bach plötzlich zu einem Fluss geworden. Einheimische hatten eine Bewässerungsschleuse geöffnet. Die Abschlussbesprechung dauert keine zwei Minuten. "Man muss die Männer nicht länger als unbedingt notwendig in Trapp halten", sagt der "Gunny".
Für die Marines war es der 111te Tag des Einsatzes. Sie gehen in ihre Zelte, ziehen trockene Kleidung an und entspannen. Ein Buch, eine DVD oder eine schnelle Mail nach Hause, dass alles gut ist. Dann ab aufs Feldbett. Der "Gunny" kommt noch vorbei und fragt, ob ich nicht Lust hätte, ein wenig zu pokern. Texas Hold’em, Pepsi und Bohnensuppe - die Freudenspender im Afghanistan-Einsatz
Am nächsten Morgen macht sich der Zug erneut auf. Ziel ist diesmal das Gebiet östlich des Stützpunktes. Die meiste Zeit geht es querfeldein. Mit dabei sind drei Soldaten der ANA, der Afghan National Army. Sie sollen ausgebildet werden, um eigenständig kämpfen zu können. So die Idee der NATO. Unteroffizier Johnson klagt jedoch: "Es sind tapfere Kämpfer, aber es mangelt an Disziplin und festem Willen dazuzulernen. Manchmal ist es wirklich frustrierend." Nach drei Kilometern schlägt der Minendetektor wieder Alarm. Einer der ANA-Soldaten hebt die Hand und zeigt auf die Böschung am Rand eines Mohnfeldes. Johnson schickt einen seiner Männer nach vorne, um die Stelle näher zu untersuchen. Positiv. Ein IED mit Druckplatte. "Die Taliban sind verdammt clevere Krieger", sagt Johnson anerkennend. "Sie studieren unser Bewegungsmuster und vergraben die Sprengfallen dort, wo sie unsere Deckung vermuten, wenn sie uns angreifen."
Wie Bombenentschärfung wirklich läuft
Eine halbe Stunde später sind die Entschärfer da. Behutsames Ausgraben mit den Händen? Schweißperlen auf der Stirn? Die 50-50-Chance zwischen dem roten und dem blauen Draht? "Das ist was fürs Kino", sagt Oberfeldwebel Derreck. "Ich zeig' Dir jetzt mal, wie wir das machen." Er wirft seine Zigarette weg, kramt eine Ladung Sprengstoff aus seiner Tasche, nicht größer als ein Energieriegel, und legt sie auf das IED. Dann stellt er den Zeitzünder und kommt zu uns hinter eine kleine Lehmwand. Die Soldaten kauern am Boden, halten sich die Ohren zu - dann rummst es. Die Explosion lässt Erdbrocken auf unsere Helme regnen. Die Marines grinsen. "Eines weniger Kumpel. Ein guter Tag!"
Auf dem Rückweg möchte ich von den Männern wissen, ob die Einheimischen dankbar sind, dass sie die Sprengfallen der Taliban unschädlich machen, die ja vor allem die Landbevölkerung bedrohen. Danke hätte noch niemand gesagt, meint Unteroffizier Johnson. Die meisten seien der Meinung, dass mit den Amerikanern auch die IED's verschwänden. Eine Logik, die offenbar von einem schwachen Erinnerungsvermögen zeugt. Aber Ursache und Wirkung werden ja nicht nur in Afghanistan verwechselt.