Deutschland wird nach Angaben von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem EU-Gipfel im Dezember auf jeden Fall für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimmen. Mit Deutschland habe die Türkei "kein Problem", sagte er am nach einem Treffen mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Berlin. Entscheidend sei aber, dass alle EU-Staaten "in einem Boot bleiben", da ein einstimmiger Beschluss notwendig sei, fügte Schröder hinzu.
"Beispiellose Reformdynamik"
Erdogan wurde in Berlin vom Verein "Werkstatt Deutschland" als "Europäer des Jahres" mit dem "Quadriga"-Preis ausgezeichnet. Der überzeugte Demokrat habe Brücken zwischen den Kulturen gebaut, hieß es in der Begründung des Kuratoriums. Schröder sagte in seiner Laudatio, der Preisträger habe eine "in der Geschichte des Landes beispiellose Reformdynamik" mutig in Gang gesetzt. Schröder warnte eindringlich vor einem "neuen Kulturkampf" in Deutschland. Es sei gefährlich, den Menschen vorzumachen, Muslime ließen sich aus der Gesellschaft heraushalten.
Der Kanzler zeigte sich ebenso wie Erdogan davon überzeugt, dass die EU-Kommission am kommenden Mittwoch eine positive Empfehlung über die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft abgeben wird. Bis dahin werde aber "noch lange Zeit" vergehen, sagte der Kanzler. Es seien auch noch komplizierte Fragen zu klären.
Erdogan weist Foltervorwürfe zurück
Erdogan bekräftigte seine Entschlossenheit, die Umsetzung der eingeleiteten Reform gegen alle Widerstände im eigenen Lager durchzusetzen. Falsch nannte er Vorwürfe, in der Türkei werde weiter systematisch gefoltert. Er vertrete in dieser Frage das "Prinzip der Null-Toleranz". Vereinzelte Übergriffe würden konsequent verfolgt.
In der Frage eines Beitrittsdatums zeigte sich Erdogan kompromissbereit. Ob die angestrebte Aufnahme in 10 oder erst in 15 Jahren vollzogen werde, sei derzeit nicht vorsehbar, sagte er vor Unternehmern in Berlin. In Anspielung auf Vorbehalte in Frankreich und anderen EU-Ländern warnte er "unnötigen Aufregungen" wegen des Beitritts. Er wandte er sich aber scharf dagegen, seinem Land die Aufnahme mit dem Argument zu verweigern, es gehöre nicht zur europäischen Zivilisation. Die Türkei verstehe sich vielmehr als Teil der europäischen "Wertegemeinschaft".
Erdogan wirft CDU/CSU Populismus vor
Das Nein von CDU/CSU zu einem späteren EU-Beitritt kritisierte Erdogan als "populistisch". Einen "Riesenfehler» nannte er die Unionsforderung nach einer "privilegierten Partnerschaft" zur EU. Der Unions-Außenpolitiker Friedbert Pflüger wies diese Vorwürfe als "völlig abwegig" zurück.
Laut Medienberichten wird sich die EU am kommenden Mittwoch für die Aufnahme von Verhandlungen aussprechen. "Die Kommission ist der Meinung, dass die Türkei die politischen Kriterien ausreichend erfüllt und empfiehlt die Aufnahme von Verhandlungen", zitierte die "Bild"-Zeitung die entsprechende Passage aus dem Bericht von Erweiterungs-Kommissar Günter Verheugen.
EU-Beitritt der Türkei nicht vor 2015
Ähnlich wie Außenminister Joschka Fischer (Grüne) schloss Verheugen einen EU-Beitritt Ankaras vor dem Jahr 2015 aus. Bis dahin müsse sich das Land noch sehr anstrengen, sagte Verheugen. Bei der Umsetzung der Reformen gebe es "in allen Bereichen noch Schwierigkeiten".