Frau Ebadi, gehen Sie heute zur Wahl?
Nein. Ich bin seit der islamischen Revolution noch nie zur Wahl gegangen.
Warum nicht?
Bei uns müssen sich Kandidaten, die an einer Wahl teilnehmen wollen, erst eine Genehmigung vom Wächterrat besorgen. Solange das so bleibt, gehe ich nicht zur Wahl.
Der Wächterrat ist ein Mullah-Gremium, das über die Einhaltung der islamischen Gesetze wacht. Dieses Jahr hat er wieder Tausende Kandidaten ausgeschlossen, darunter viele Mitglieder der Reform-Bewegung. Macht sie das wütend?
Die Erfahrung der letzten 30 Jahre zeigt: Der Wächterrat schließt immer die von der Wahl aus, die die Regierung kritisieren. Dieses Mal sind viele Kandidaten sogar ohne Angabe von Gründen disqualifiziert worden. Und nach der Wahl müssen alle Gesetze, die das Parlament verabschiedet, erst vom Wächterrat genehmigt werden, bevor sie in Kraft treten.
Gesetze, die ihnen nicht gefallen, können die Mullahs wieder kassieren?
Genau. So geschah es mit der internationalen Anti-Folter-Konvention, die das Parlament vor einigen Jahren ratifiziert hatte und mit vielen anderen Gesetzesvorhaben. Ich frage mich: Wozu braucht man denn ein Parlament, wenn der Wächterrat in allen Dingen das letzte Wort hat?
Verhindert nur der Wächterrat freie und faire Wahlen?
Nein. Auch die Regierung hat sich nicht korrekt verhalten: Sie hat im Wahlkampf nicht allen Kandidaten gleichmäßigen Zugang zu Fernsehen und Radio gewährt. Und das obwohl der Iran alle maßgeblichen internationalen Abkommen unterschrieben hat, die festlegen, wie freie und faire Wahlen auszusehen haben. Außerdem gibt es im Iran immer noch Gesetze, die diesen Abkommen zuwider laufen.
Zum Beispiel?
Das Gesetz, das festlegt, dass die religiösen Minderheiten wie die Juden oder die Zarathustrier nur einen einzigen Vertreter im Parlament haben dürfen. Und dass sie nur für Angehörige ihrer eigenen Religion stimmen dürfen. Und dass Muslime nur für Muslime stimmen dürfen.
Im vergangenen Jahr haben sie mit Mitstreiterinnen aus der iranischen Frauenbewegung eine landesweite Unterschriften-Kampagne zur Reform der Gesetze gegründet, die die Rechte der Frauen beschneiden: Im Erbrecht, im Familienrecht, im Strafrecht. Sind diese Kampagnen eine Folge der Frustration der Menschen mit der offiziellen Politik im Iran?
Keine Ahnung. Ich bin Anwältin und Menschrechtsaktivistin, keine Soziologin.
Die Regierung geht sehr harsch gegen die Kampagne vor. Dutzende Aktivistinnen wurden verhaftet, nur weil sie auf der Straße Unterschriften gesammelt haben. Vergangene Woche wurde eine ihrer Mitstreiterinnen die Ausreise nach Schweden verwehrt, wo ihre Kampagne mit dem Olof-Palme-Preis geehrt werden sollte. Warum diese harsche Reaktion?
Solche Dinge passieren, wenn eine Regierung nicht auf die rechtmäßigen Forderungen ihrer Bürger hören will.
Die Reformer, von denen sich viele noch vor wenigen Jahren eine Verbesserung der Verhältnisse erhofften, sind heute sehr schwach. Gilt das auch für die Frauenbewegung im Iran?
Nein. Die Frauen sind heute stärker, als jemals zuvor.
Woran liegt das?
Sie sind besser ausgebildet und kennen ihre Rechte besser. 65 Prozent der Universitätsabsolventen im Iran sind heute Frauen. Sie lassen sich nicht mehr von diskriminierenden Gesetzen einschüchtern.
Den Westen beschäftigt im Moment vor allem der Atom-Streit mit dem Iran? Was halten sie von der westlichen Politik gegenüber ihrem Land?
Die Politiker im Westen haben vor lauter Atom-Streit die Menschenrechte im Iran vergessen. Sie täten gut daran, sich mehr für Demokratie und Menschenrechte im Iran einzusetzen, statt sich zu sehr auf die Atom-Frage zu konzentrieren.