Es ist dunkel, als bewaffnete Soldaten zwei Frauen über die Grenze vom Gazastreifen nach Israel eskortieren. Es sind Judith Tai Raanan und ihre 17-jährige Tochter Natalie Shoshana Raanan. Die beiden Frauen waren für eine Geburtstagsfeier nach Israel gereist. Dann überfiel die Hamas das Land, tötete mehr als 1000 Menschen und verschleppte über 200. Auch die Mutter und ihr Kind wurden am 7. Oktober frühmorgens von bewaffneten Hamas aus ihrem Kibbuz Nahal Os in den Gazastreifen entführt, berichtet ein israelische Militärsprecher.
Danach hat die Familie in den USA nichts mehr von den beiden Frauen gehört, sagte Natalies Bruder der Nachrichtenagentur Associated Press (AP). US-amerikanische und israelische Behörden hätten ihnen nur mitgeteilt, dass die beiden in Gaza festgehalten würden.
Judith und Natalie leben mit ihrer Familie in Evanston, einem Vorort von Chicago. Nathalie wurde in den USA geboren, zog jedoch mit ihrer Mutter nach Israel. Sie hat deshalb beide Staatsbürgerschaften. Im Alter von zehn Jahren kehrte sie wieder zurück, erzählt ihr Vater Uri Ranaan AP. Natalie "hat immer von ihrer Heimat gesprochen", fügte ihre zwei Jahre ältere Stiefschwester hinzu und meinte damit Israel. "Sie hat es sehr, sehr vermisst. Jeden Tag vermisste sie ihre Großmutter, sie vermisste ihr Zuhause. Einfach das Gefühl, dort zu sein. Ich wette, das tut ihr sehr weh."
Mutter und Tochter waren zuletzt nach Israel gereist, um den Geburtstag der Großmutter zu feiern. Dann kam die Hamas. Knapp 200 Menschen soll die militante Terrororganisation bei dem blutigen Überfall in den Gazastreifen verschleppt haben – unter ihnen nicht nur Israelis, sondern Menschen verschiedener Nationen, größtenteils mit doppelter Staatsbürgerschaft (Mehr zu den Vermissten lesen Sie hier).
Acht Deutsche unter den Verschleppten
Das Auswärtige Amt spricht von acht verschleppten Deutschen. Die USA vermissen mindestens zehn Menschen, deren Schicksal ungeklärt ist. Allerdings sei davon auszugehen, dass sich einige in der Gewalt der Hamas befänden. Israel hatte den Gazastreifen als Reaktion auf den Überfall und die Geiselnahme blockiert. Hilfsgüter sollten die Zivilisten dort nur erreichen, wenn die Hamas sämtliche Geiseln gehen ließe.
Judith Tai Raanan und Natalie Shoshana Raanan sind bisher die ersten und einzigen, die gehen durften. Die Hamas nannten "Bemühungen Katars" sowie "humanitäre Gründe" und veröffentlichte ein Video der Geisel-Übergabe.
Biden feiert Freilassung – Israel kritisert Hamas
Israels Verantwortlicher für die Entführten und Vermissten, Brigadegeneral Gal Hirsch, empfing Nathalie und Judith an der Grenze zum Gazastreifen, zeigen Fotos israelischer Behörden. Das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu bestätigte die Freilassung, nicht aber ohne die Gegner in Gaza zu kritisieren: "Die Hamas stellt sich der Welt so dar, als hätte sie die Frauen, die sie als Geiseln genommen hat, aus humanitären Gründen zurückgegeben, während die Hamas in Wirklichkeit eine mörderische Terrororganisation ist, die gerade jetzt Säuglinge, Kinder, Frauen und ältere Menschen im Gazastreifen als Geiseln hält und weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht."
US-Präsident Joe Biden zeigte sich indes "überglücklich", dass die beiden Frauen freigelassen wurden. "Unsere Mitbürgerinnen haben in den vergangenen 14 Tagen eine furchtbare Tortur durchgemacht, und ich bin überglücklich, dass sie bald mit ihrer Familie wiedervereint sind", erklärte Biden. Er dankte Katar und Israel für ihre "Partnerschaft" und erklärte, die USA würden nicht nachlassen, bis alle anderen noch von der Hamas als Geiseln festgehaltenen Staatsangehörigen zu Hause seien.
US-Außenminister Anthony Blinken äußerte sich ebenfalls erleichtert, wies aber auch auf die verbliebenen Schicksale hin. "Wir wissen, dass einige von ihnen von der Hamas als Geiseln gehalten werden, zusammen mit schätzungsweise 200 anderen Geiseln, die in Gaza festgehalten werden." Jeder Einzelne von ihnen müsse freigelassen werden, forderte Blinken und versicherte, die US-Regierung arbeite unermüdlich daran, die restlichen entführten Amerikaner heimzuholen.
Familienvater: "Ich bin in Tränen aufgelöst"
Judith und Nathalie werden nun medizinisch untersucht und versorgt, sagte ein israelischer Militärsprecher dem US-Sender CNN. Danach sollen beide auf einer Militärbasis im Zentrum Israels mit ihren Angehörigen vereint werden.
Für die Familie zählt vor allem, dass die beiden frei und am Leben sind. "Ich bin in Tränen aufgelöst, aber ich fühle mich sehr, sehr gut", sagt Uri Raanan, Vater der beiden ehemaligen Hamas-Geiseln. Am Freitag habe er in den Nachrichten gesehen, eine amerikanische Mutter und ihre Tochter von der Hamas freigelassen würden. Er habe so gehofft, dass es Judith und Natalie sein würden.
Er habe bereits mit seiner Tochter telefoniert. "Es geht ihr gut, es geht ihr sogar sehr gut." Auf einer Pressekonferenz sagte er, dass seine Frau Judith, abgesehen von einem kleinen "Kratzer" an der Hand, unverletzt sei. Beide sähen gut aus und hörten sich gut an. Dass seine Tochter ihren bevorstehenden 18. Geburtstag mit der Familie feiern könne, ist "wunderbar. Das ist die beste Nachricht"
Quellen: Associated Press, mit Material von DPA und AFP