"Ich liebe euch", schreibt Hersh Goldberg-Polin am Morgen des 7. Oktober 2023 an seine Mutter Rachel. Und kurz darauf: "Es tut mir leid." Seiner Mutter ist schnell klar: Hersh steckt in Schwierigkeiten. So schildert es Rachel Goldberg der "Los Angeles Times". Der 23-Jährige lebt mit seinen Eltern und zwei jüngeren Schwestern seit sieben Jahren in Jerusalem, ist SV Werder Bremen-Fan und für das Nova-Musikfestival in den Süden Israels gereist. Die Bilder, die nach dem Angriff der Hamas kursieren, sind für die Familie ein Schock. "Seitdem haben wir einen wahren Alptraum erlebt", sagt Rachel Goldberg. Stundenlang war der Familie nicht klar, wo ihr Sohn steckt, ob er noch lebt oder von den Hamas verschleppt wurde.
Sie sind nicht die Einzigen, die um einen geliebten Menschen bangen: Bei ihrem Großangriff auf Israel vor fünf Tagen hat die Terrorgruppe Hamas bis zu 250 Menschen getötet und über 100 in den Gazastreifen verschleppt. Im Netz kursieren zahlreiche Hilferufe von Angehörigen – auch aus Deutschland –, die Verwandte vermissen. Schätzungen der israelischen Armee zufolge befinden sich ungefähr 150 Menschen in der Gewalt der Hamas.
Viele Vermisste mit doppelter Staatsbürgerschaft
In Deutschland bemühen sich die Behörden um Klarheit. Seit Samstag tagt der Krisenstab der Bundesregierung. Wie viele Menschen aus Deutschland vermisst werden oder verschleppt wurden, teilt das Auswärtige Amt auf stern-Anfrage nicht mit. "Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zum Schutz der betroffenen Personen weder zur Anzahl noch zu Einzelfällen öffentlich äußern", heißt es in der schriftlichen Antwort.
Medienberichten zufolge werden fünf Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft vermisst. Unter ihnen ist auch die 22-jährige Shani Louk. Sie soll nach dem Angriff der Hamas nach Gaza verschleppt worden sein. Das zeigt ein Video, auf dem die junge Frau halbnackt auf einem Pick-Up zwischen mehreren Hamas-Männern offenbar im Gazastreifen zu sehen sein soll. Wie unter anderem die Tagesschau unter Berufung auf die Mutter von Shani Louk berichtet, befindet sich die junge Frau mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus. "Wir haben jetzt weitere Informationen, dass Shani am Leben ist", sagte Ricarda Louk in einer Videobotschaft. Ihre Mutter wanderte nach Israel aus und konvertierte zum Judentum. Der Vater ihrer Tochter ist Israeli. Shani Louk hat nach Informationen des "Spiegel" nie in Deutschland gelebt, allerdings die deutsche Staatsbürgerschaft.

Einem Bericht der "Welt" zufolge soll zudem eine junge deutsche Touristin bei ihrem Besuch im Kibuz Nir Os nahe des Gazastreifens getötet worden sein. Die Studentin aus Berlin sei dort mit ihrem britischen Freund im Urlaub gewesen. Ihre Mutter habe die Nachricht erhalten, dass die Leichen der beiden gefunden worden seien. Eine offizielle Bestätigung steht noch aus.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach mit Blick auf die Entführungen durch die Hamas von einer "unerträglichen Erpressung". Laut einem Bericht des französischen Außenministeriums wurden bei dem Hamas-Angriff vier Franzosen getötet. 13 weitere französische Staatsbürger werden vermisst. Unklar ist jedoch weiterhin, was mit ihnen geschehen ist. Die Behörden gehen davon aus, dass einige "sehr wahrscheinlich entführt wurden" – unter ihnen auch ein zwölfjähriger Junge.
In Österreich werden drei Männer mit österreichisch-israelischer Staatsbürgerschaft vermisst: Tal Shoham, dessen Frau und drei Kinder im Alter von drei bis acht Jahren wurden Medienberichten zufolge vermutlich am Samstag von den Hamas verschleppt. Auch Shaked Haran vermisst elf Familienangehörige. Der Tageszeitung "Die Presse" berichtete sie, wie sie versucht habe, ihre Familienmitglieder telefonisch zu erreichen. Schließlich habe sich eine fremde Stimme gemeldet und in gebrochenem Hebräisch erklärt, die Verwandten seien in den Gazastreifen verschleppt worden. Alle Personen haben die israelische, österreichische, deutsche oder italienische Staatsbürgerschaft. Beide Familien lebten in Israel, waren jedoch nicht auf dem Musikfestival zugegen. Das österreichische Außenministerium teilte mit, dass einer der drei Vermissten bei dem Großangriff der Hamas getötet und seine Leiche nun gefunden wurde.
Nach Angaben der US-Behörden sind bei dem Angriff der Hamas 14 US-Bürger ums Leben gekommen, mindestens 20 weitere werden vermisst. Präsident Joe Biden erklärte die Rettung der Menschen zur obersten Priorität. "Für mich gibt es keine höhere Priorität als die Sicherheit der Amerikaner, die auf der ganzen Welt als Geiseln gehalten werden", sagte er bei einer Rede im Weißen Haus am Dienstag. Wie die Behörden anderer Staaten auch, hat Washington keine Identitäten der Vermissten veröffentlicht. Anhand von Hilferufen im Netz konnten US-Medien jedoch einige Angehörige von Vermissten aufspüren. Bei einer Pressekonferenz in Tel Aviv berichtete Naher Neta unter Tränen, wie er seine 66-jährige Mutter und seine Geschwister am Telefon beruhigte, als die Hamas am Samstag in ihr Haus nahe dem Gazastreifen einbrachen. Das letzte, was er von seinen Verwandten gehört habe, seien Schreie gewesen.
Unter den Vermissten befinden sich auch eine Mutter und ihre Tochter aus Illinois. Die beiden hatten Verwandte ungefähr einen Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt besucht. Seit dem Hamas-Angriff werden Mutter und Tochter vermisst.
Kanada meldet drei Vermisste und zwei Tote. Bei dem Hamas-Angriff am Samstag wurde ein 33-Jähriger aus Montreal bei dem Musikfestival getötet. Tage später folgte die Meldung, dass auch ein 22-jähriger Mann getötet worden ist.
Die Behörden in Großbritannien gehen davon aus, dass sich 60.000 Briten in Israel oder Gaza befinden. Mehr als zehn Menschen werden vermisst. Unter ihnen ist ein 20-jähriger Soldat und ein Schotte mit seiner Familie. Beide waren nach Israel ausgewandert. Auch von Jake Marlowe, Sicherheitsdienst beim Musikfestival in Israel, fehlt seit Samstag jede Spur. Das Schicksal der Männer ist weiterhin ungewiss.

Aus Irland wird die 22-jährige Kim Damti vermisst. Sie wurde zuletzt auf dem Nova-Musikfestival in Israel gesehen. Die junge Frau hat die israelische und irische Staatsbürgerschaft.
Italien vermisst ein Paar mit doppelter Staatsbürgerschaft, das in einem Kibbuz nahe der Gaza-Grenze lebte. Italiens Außenminister Antonio Tajani geht davon aus, dass sie verschleppt wurden.
Thailands Außenministerium meldete am Dienstag 18 getötete Staatsbürger und 11 verschleppte Menschen. Acht weitere seien verletzt worden.
Die Behörden in Nepal vermeldeten am Sonntag zehn tote Staatsbürger. Dabei handele es sich um Studenten, die zum Arbeiten nach Israel gegangen waren.
Werder Bremen sucht vermissten Fan
Die Eltern von Hersh Goldberg-Polin hoffen, dass ihr Sohn noch lebt. Ein Bild, das die Familie im Netz gefunden hat, zeigt den 23-Jährigen mit einem Freund hinter einem Luftschutzbunker in der Nähe des Konzertgebäudes. Ein Zeuge, den die Familie ausfindig machen konnte, berichtete, wie Hersh Goldberg-Polin zusammen mit weiteren Menschen von den Hamas in einem Wagen weggebracht wurde. Die letzte Ortung über das Smartphone zeigt, dass der 23-Jährige an der Gaza-Grenze vorbeikam. Wo der junge Mann jetzt ist, weiß die Familie nicht. Mittlerweile setzt sich auch der Fußballverein Werder Bremen bei der Suche nach dem jungen Fan ein. Per X (vormals Twitter) hat der SVW ein Foto mit einem Hilfeaufruf gepostet.
Quellen: "The Tiems of Israel", "Los Angeles Times", ABC News, "Der Standard", "Die Presse", "New York Times", Reuters Thailand, BBC, CBC, BBC World, Ansa.en, RTE, mit Material von DPA und AFP