Die Wahlergebnisse sind erst der Anfang. Denn anders als in den westlichen Ländern, wo mit einer Parlamentswahl die Weichen für die nächste Legislaturperiode gestellt werden und danach eine gewisse politische Ruhe eintritt, geht im Irak das Gerangel jetzt erst richtig los. Zwar werden die 275 Abgeordneten der Nationalversammlung auch eine neue, weitere Übergangsregierung bestimmen. Doch was noch wichtiger ist: Sie müssen eine endgültige Verfassung ausarbeiten, das politische Gesicht des Iraks bestimmen. Wird das Zweistromland tatsächlich eine Demokratie oder aber ein vom islamischen Recht Scharia dominierter Staat? Werden sich Frauen künftig komplett verhüllen müssen oder wird es auch erlaubt sein, schicke Kleidung zu tragen?
Wird die Scharia Einzug in die Verfassung finden?
Die Wahlen zur Nationalversammlung sind eindeutig zu Gunsten der Liste 169, der Vereinigten Irakischen Allianz, ausgefallen, obwohl sie die erwartete absolute Mehrheit knapp verfehlte. Hinter dem Wahlbündnis verbirgt sich ein Block von maßgebenden schiitischen Parteien. Allen voran der SCIRI (Oberster Rat der Islamischen Revolution), der von Iran unterstützt wird. Ihr Vorsitzender, Abdul Asis el Hakim, will zwar keinen Gottesstaat der Ajatollahs im Irak einführen, die Scharia müsse aber in die künftige Verfassung Eingang finden, forderte der Bruder des im Sommer 2003 durch einen Bombenanschlag getöteten Ajatollah Bakir el Hakim im irakischen Fernsehsender Iraqia.
Doch so einheitlich, wie sich die Schiiten vor der Wahl präsentierten, dürfte es danach nicht mehr zugehen. Die Erfahrungen, die einige von ihnen aus dem iranischen oder westeuropäischen Exil mitgebracht haben, weisen in unterschiedliche Richtungen. So verbrachte Ibrahim Jaafari, der als potenzieller nächster Premierminister gehandelt wird, einige Zeit in London. Die Dawa- Partei, deren Vorsitzender der 58-Jährige ist, hat sich einen reformierten Islam auf die Fahne geschrieben und will die religiösen Institutionen modernisieren.
Die Kurden sind die Königsmacher
Ohne uns geht nichts, sagen die Kurden, die mit etwa einem Viertel der Stimmen den den zweitgrößten Wähleranteil verbuchen und sich schon rechtzeitig ein Vetorecht für die endgültige Verfassung ausbedungen haben. "Einen Scharia-Staat werden wir nicht hinnehmen", ist sich Mamo Farhan Othman sicher. Der Übergangsminister für den Aufbau der Zivilgesellschaft im Irak hat 23 Jahre in Berlin gelebt und den deutschen Föderalismus kennen gelernt. Er und die Mehrheit seiner kurdischen Ministerkollegen sowie die Führung der beiden großen kurdischen Parteien KDP und PUK streben das bundesrepublikanische Modell an, "angepasst an die irakische Kultur". Dies sei die einzige Lösung, um den Irak vor einem Auseinanderbrechen zu bewahren, sagte Othman der dpa.
Die Interessenkonflikte zwischen den unterschiedlichen Ethnien und Religionen sind groß. Nach dem Wahlergebnis kommt den Kurden die Rolle des Königsmachers zu. Sie entscheiden letztendlich, wer auf dem Sessel des Ministerpräsidenten Platz nehmen wird. Erste Gespräche gab es bereits vergangenen Freitag im kurdischen Erbil, als Interimspremier Ijad Allawi mit Kurdenführer Massud Barsani zusammentraf und um Unterstützung für sein Verbleiben im Amt bat.
Allawi wurde abgestraft
Ijad Allawi ist der unglückliche Dritte bei dieser Wahl. Mit nur knapp 14 Prozent der Stimmen blieb sein Bündnis weit hinter den Erwartungen zurück, obwohl der säkulare Schiit alles dafür tat, um für sich und seine Irakische Liste zu werben. Kein anderes Gesicht war so oft im staatlichen Fernsehen zu sehen, wie das Allawis. Gerüchte über Wählerbestechung und Einflussnahme bei den Stammesvorsitzenden machten die Runde. Doch es reichte nicht, um das bedeutende Zünglein an der Waage spielen zu können.
Jetzt ist der noch geschäftsführende Premier für sein politisches Überleben auf die Gnade der Kurden und weiterer Parteien angewiesen. Aus dem schiitischen Lager kann er wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur Baath-Partei nicht mit Unterstützung rechnen. Die große Frage stellt sich jetzt aber nach dem Verhalten der Sunniten. Offiziell hatten alle ihre Parteien und religiösen Organisationen zum Wahlboykott aufgerufen, und der wurde auch größtenteils befolgt. Trotzdem stimmten rund 22 000 Wahlberechtigte für die Islamische Partei Iraks, die größte Sunnitenpartei des Landes, deren Name nur deshalb noch auf dem Wahlzettel vermerkt war, weil sie sich ursprünglich bei der Kommission hatten registrieren lassen. Ob ihre politische Integration im neuen Irak gelingt, werden die nächsten Wochen zeigen.
Regine Kirschner/DPA