Der Morgen beginnt nicht gut: Punkt 8.30 Uhr klirren die Fenster von Detonationen, die nicht allzu weit entfernt sein können. Manche klingen nach dem einmaligen "bumm" einschlagender Mörsergranaten, andere nach dem hallenden "rawumm" expodierender Bomben. Nach einer halben Stunde wird es wieder ruhiger - und bleibt, zumindest für Bagdader Verhältnisse, erstaunlich ruhig dafür, dass die radikalen Wahlgegner angekündigt haben, die Straßen mit dem Blut der Wähler zu tränken.
Entsprechend nervös sind die ersten, die an diesem dunstigen Morgen zum Wahllokal Nr. 66001 im Zentrumsviertel Badawin kommen. Drei Checkpoints hat die Polizei rund ums Wahllokal in der Nidhamiya-Schule errichtet, den ersten 250 Meter entfernt, außerdem ist der Autoverkehr untersagt und stehen tonnenschwere Betonbarrikaden vor der Schule. Langsam, gegen zehn Uhr, trauen sich mehr Menschen zu kommen, stehen Schlange, um zum ersten Mal seit Menschengedenken frei wählen zu können. "Sonst kann ich mich ja kaum frei äußern" redet sich ein Lehrer in Fahrt: "Die Islamisten verwandeln dieses Land in ein Gefängnis - nur ein anderes als vorher." Sein Name ist James Alexi Iwan, er ist gebürtiger Iraker, aber seine Vorfahren sind aus der Ukraine eingewandert. Ein Christ, und er erzählt in aller Öffentlickeit einen Schiitenwitz: "Am Tag des jüngsten Gerichts sitzt Ali, der Imam der Schiiten, neben Gott, um zu entscheiden, wer ins Paradies kommt. Aber wenn Gott mit seiner Wahl nicht einverstanden ist, zieht er zur Drohung kurz am Schwert. So sind die...", und er lacht. Einen Polizisten, der sich zum Zuhören hinter ihn gestellt hat, fährt er an: "Hey! Die Zeiten sind vorbei! Hau ab - oder rede mit, aber lausch nicht!" Ein paar Schrecksekunden später umarmt er ihn, "nimm's nicht persönlich!" Angst habe er keine gehabt, wählen zu gehen: "Wir haben das Grauen gesehen. Unsere Angst ist längst tot."
Immer mehr Wähler kommen, verlassen die Schule mit violett-blau leuchtenden Zeigefingern, der Markierung, damit sie nicht nochmal versuchen, eine Stimme abzugeben. Manche stecken die Hand verschämt in die Tasche, andere recken stolz den Finger: "Wir haben gewählt", sagen drei alte Frauen im Chor, die Finger erhoben. Rabia, die älteste, ist weit über 70, Schiitin, und sagt mit feiner, leiser Stimme: "Wir wollen Freiheit. Wir haben lange auf so einen Moment gewartet." Sie und Susan, die jüngste, haben die 169er-Liste gewählt, auf der die wichtigsten schiitischen Kleriker kandidieren, Najat, Christin, hat Allawi gewählt. "Aber wir sind seit 50 Jahren Nachbarn und lassen uns von niemandem etwas vorschreiben", sagt sie, und die anderen beiden nicken vergnügt. Das Viertel Badawin bietet eine guten Querschnitt, eine Art Irak en miniature: Hier leben Sunniten, Schiiten, Christen und Kurden Tür an Tür.
Auch Farhan, 31, Portier im Krankenhaus, hat für die Liste 169 gestimmt und beteuert, keine Angst zu haben: "Jeder hat seinen Tag zu sterben. Wenn es heute ist, ist es eben heute!" Während er redet, ist von fern eine Detonation zu hören.
Alle sind stolz zu sagen,
wen sie gewählt haben, und nie hat man seit dem Fall des alten Regimes so viele Frauen auf der Straße gesehen, die ihrem Willen Ausdruck geben wollen. Viele haben sich feingemacht, Make up aufgelegt, Lippenstift, das ganze Repertoire, das die Islamisten als Sünde erachten. Ob die Wählerscharen eine stille Mehrheit oder stille Minderheit sind, wird sich am Abend herausgestellt haben. Auf jeden Fall kommen hier jene, die man sonst nicht hört, die nicht mit Waffen und Einschüchterung operieren. Und fast alle kommen, weil sie wählen wollen. Nur eine Frau lamentiert, sie müsse ja wählen, sonst bekomme sie keine Lebensmittelkarten mehr. Woher sie diesen Blödsinn habe, will ein Polizist wissen. "Das sagen doch alle", erwidert sie, und die beiden streiten lautstark für eine Weile, bis sie empört in die Wahlkabine geht. "Ist das Demokratie", murmelt er wütend vor sich hin, "dass uns lose Weiber beschimpfen dürfen? Das war doch bestimmt eine Hure", lamentiert er und wackelt mit dem Hintern voran rückwärts über die Straße.
"Wir haben Allawi gewählt", bekennt Muhannad, ein arbeitsloser Erdölingenieur. Premier Allawi, der versprochen hat, "nicht mit der Brutalität, aber der Härte des alten Regimes" zuzuschlagen. Muhannads Frau Qadidscha sagt: "Wir wollen Sicherheit, einfach wieder in Ruhe leben können!" Angst zu kommen, hätten sie keine, aber strafen das Gesagte Lügen, als sie erklären, dass die zwölfköpfige Familie in Dreiergruppen kommt: "Wenn sie das Lokal hier in die Luft jagen, stirbt zumindest nicht unsere ganze Familie!" Und ganz unberechtigt ist die Furcht nicht: Am letzten Schultag vor den Zeugnisferien sei ein Motorradfahrer vorbeigekommen, erzählt einer der Schüler, und habe ein Flugblatt in den Schulhof geworfen: "Tod allen Verrätern, die sich an den Wahlen der Ungläubigen beteiligen!" Gerüchte machen die Runde: Andernorts in Bagdad sollen sich Selbstmordattentäter in den Warteschlangen gesprengt haben. Was sie an acht Stellen im Laufe des Tages tatsächlich tun, aber dabei nirgends ein Blutbad anrichten. Gewohnt, mit Autos voller Sprengstoff anzurücken, sind sie auf Attentäter mit Sprengstoffgürteln angewiesen und ist die Rechnung der Polizei aufgegangen, den kompletten Verkehr zu verbieten.
In Badawin bleibt es gänzlich friedlich.
Gegen Mittag nimmt die Zahl der Wähler ab, demontieren die Polizisten den ersten Checkpoint. "Wir haben für Allawi gestimmt", sagen eine Mutter und ihre Tochter mit piepsiger Stimme: "Denn was für eine Freiheit ist das hier im Irak? Eine Freiheit der Männer, tun und lassen zu können, was sie wollen. Wir brauchen wieder eine harte Hand!"
"Wieder so jemanden wie Saddam?", fragen wir zurück. "Naja, Saddam hatte seine guten und seine schlechten Seiten", formuliert die Mutter vorsichtig: "Wenigstens war es sicher, auf die Straße zu gehen." Die Anhänger von Allawi scheinen insgesamt zum späten Aufstehen zu neigen: Am Morgen votierten die meisten für Sistani und Liste 169, am Nachmittag räumt Allawi mit seiner Liste 285 ab. Sehr zur Freude der Polizisten, die allen Vorbeikommenden schwer ans Herz legen, Allawi zu wählen. Er und die 169er-Liste sind die großen Gewinner unter den weit über hundert Listen, die zur Auswahl standen. Nur eine alte Frau erzählt mit brüchiger Stimme, für Ghazi al-Zawars Liste "Die Iraker" votiert zu haben: "Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wählen konnte, wen ich wollte. Und ich bin 77." Dann beginnt sie zu weinen, "ich wollte auch noch für meinen Mann abstimmen, er ist vor vier Monaten gestorben, aber sie haben mich nicht gelassen. Dabei hätte er so gerne gewählt."
Es ist ein seltener, schöner Tag,
so viele Bagdadis so stolz und froh erlebt zu haben. Was dies für die Zukunft des Irak bedeutet, ist noch zu früh zu sagen. Ebenso, ob die Auszählung der Stimmen korrekt vonstatten gehen wird angesichts erster Meldungen, dass selbst in Vierteln, wo kaum Menschen zur Wahl gegangen sind, die Beteiligung bei 50 Prozent gelegen habe. Aber zumindest haben die Wahlen stattgefunden.
Am Spätnachmittag, kurz vor Schließung des Wahllokals um 17 Uhr, zählt die Wahlleitung durch; 1700 von 2967 Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben, und es ist eine friedliche Wahl gewesen im Wahllokal 66001 in Badawin, Bagdad-Mitte.