Es ist in London zur Zeit sehr in, schlecht über London zu schreiben, und es ist mehr als eine der üblichen Modeerscheinungen. Die Kolumnistin Hadley Freeman vom „Guardian“ verfasste gerade einen länglichen Artikel über die vermeintlichen Nachteile Londons im Vergleich zu New York, „Sorry London, you’re too uncool. And way behind New York“. Er begann mit dem Satz „London ist schrecklich. Es ist buchstäblich der schlechteste Ort der Welt.“
Nun haben wir das Glück, bereits in mehreren Städten gelebt zu haben, darunter auch in New York. Oder Lüdenscheid oder Köln und Bonn und Hamburg und Berlin. Außerdem sind wir ganz gut rumgekommen in dieser Zeit - Eckernförde, Hückeswagen, Herne, München und so. Wir können hiermit eidesstattlich versichern, dass London nicht der schlechteste Ort der Welt ist.
Man kann viel gegen diese Stadt sagen. Zu teuer, zu laut, zu schmutzig, zu unübersichtlich, zu gentrifiziert, zu gierig. Alles richtig. Aber das gilt für ungefähr jede Großstadt. Und zu uncool? Trifft bestenfalls aufs Wetter zu, Hitze auch in London. Uncool ist unverschämt.
Am Dienstag jähren sich die Bombenattentate auf London zum zehnten Mal, das Kürzel 7/7 ist das britische Äquivalent zu 9/11. Am Morgen des 7. Juli 2005 starben 52 Menschen bei Anschlägen auf drei U-Bahn-Stationen und einen Doppeldeckerbus; Hunderte wurden verletzt. Es war der massivste Anschlag auf die Hauptstadt seit dem Blitzkrieg, und Erinnerungen wurden wach an die 70-er und 80-er Jahre, als die IRA in London bombte und die Menschen ganz selbstverständlich und ziemlich cool hinter Sandsäcken in Restaurants und Pubs saßen und aßen und tranken. Stay calm and carry on, die Zweite.
London gedenkt still und stilvoll; es gab eine Gedenkminute um 11.30 Uhr und ein Memorial-Service im Hyde Park an jenen 52 Säulen, die an die Toten erinnern. In St. Paul’s Cathedral trafen sich Angehörige. Die Queen nahm nicht teil, der Palast ließ knapp verlauten, sie sei cbe, das steht für „can’t be everywhere“. Insgesamt ging es sehr britisch und sehr cool zu an diesem Gedenktag und ziemlich anders als in New York nach 9/11. Vielleicht kann man Gedenken nicht vergleichen. Vielleicht aber eben doch. Amerikaner gedenken lauter und schriller, größer und pompöser. Wir haben es damals vor Ort erlebt. Für die USA war der Angriff auf World Trade Center und Pentagon die erste Attacke auf heimatliche Erde seit Pearl Harbor, die Ausmaße mit 3000 Toten monströs. 9/11 ist und bleibt ein nationales amerikanisches Trauma, 7/7 eine schreckliche Kalamität von vielen Kalamitäten. Denn Britannien trauert ja nicht nur um die Toten von vor zehn Jahren, sondern auch um die neuesten Terroropfer aus Tunesien.
Nach wenigen Stunden kursierten schon Witze
New Yorker und Londoner haben aber gemein, dass sie nach den katastrophalen Anschlägen relativ zügig zu einer gewissen Normalität zurückkehrten. In New York kursierte unmittelbar danach der Spruch, dass sich die Stadt dann wieder erholt habe, wenn die Menschen in den U-Bahnen wieder fluchen würden. Sie fluchten drei Tage später schon wieder auf die „fucking subway“.
Und die Londoner verarbeiteten die Attentate sogar mit Humor. Tags zuvor hatte die Stadt bei der Olympia-Vergabe für 2012 gegen das favorisierte Paris gewonnen; die Briten wachten beschwingt auf an jenem Morgen, dann explodierten die Bomben, und schon Stunden später machte ein Witz die Runde: „Die Franzosen müssen schlechte Verlierer sein.“
Die Briten sind Kummer, Bedrohung und Terror gewohnt. Sie durchlebten den Krieg, sie durchlebten die IRA und nennen die Zeiten des Bürgerkrieges in Nordirland reichlich verharmlosend „Troubles“, Ärger. Die Stadt lebt mit Ärger – und Terror. Vor zwei Jahren hackten zwei Islamisten den jungen Soldaten Lee Rigby auf offener Straße zu Tode. Und nun droht der IS. Im Schnitt verlassen fünf junge Leute pro Woche das Land und schließen sich den IS-Truppen an, 700 insgesamt bislang; das vermummte Gesicht des IS-Irrsinns ist ein Brite, Mohammed Emwazi, geläufig als Jihadi John. Aufgewachsen, zur Schule gegangen und studiert in London. Am Wochenende wurden in Pakistan drei Männer verhaftetet, die einen Terrorplot in London planten. Am Gedenktag. Irgendwas ist immer.

Natürlich haben die Anschläge von vor zehn Jahren die Stadt und das Land verändert. Natürlich sind die Sicherheitsmaßnahmen schärfer als zuvor. Natürlich hat die Regierung die Befugnisse der Geheimdienste ausgeweitet und auch unangemessen ausgenutzt. Und natürlich wurden danach gleich mehrere Anschläge vereitelt; darunter der geplante Absturz von sieben Passagiermaschinen über den USA im Jahr drauf, Ausgangspunkt: Heathrow. All das ertragen die Menschen hier mit einem gelernten Langmut. Der größte sichtbare Unterschied ist, dass an den U-Bahnen die Mülltüten jetzt durchsichtig und nicht mehr schwarz sind. Die Stadt, sagt ihr Bürgermeister Boris Johnson, sei noch stärker als vor zehn Jahren. Schwächer ist sie jedenfalls nichts.
Wenige Tage vor dem Jahrestag hielten sie in der Innenstadt eine große Übung ab. Mehr als 1000 Polizisten und Statisten probten für den Fall eines erneuten Anschlags an einer stillgelegten U-Bahnstation. Der Test sah erschreckend echt aus, er verlief reibungslos, hieß es danach. Man könnte auch sagen: Sie sind gewappnet für den Tag, der kommen wird. Die Experten sagen, das sei keine Frage des ob, sondern des wann. Und die Londoner? Bleiben cool. Was sollen sie auch machen.
Die Kolumnistin vom „Guardian“ zieht jetzt um. Sie ist es leid – zu teuer, zu überfüllt, vor allem aber das ganze Gerede. Sie zieht im Übrigen nicht nach New York. Sie zieht von London nach… London. Denn bei allem: Besser geht nicht.