Ukraine-Krieg "Kiew würde großen Teil der Armee verlieren": stern-Experte bewertet neue Taktik Putins

Ukraine-Krieg: Panzer Russlands fahren auf einer Straße
Ukraine-Krieg Panzer Russlands auf Straße
© Nikolai Trishin/ / Picture Alliance
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Gernot Kramper (stern) Kiewr würde einen Großteil der normalen Armee in dem Moment verlieren und das wäre natürlich kaum wieder aufzuholen. // Da würde ich jetzt nicht sagen, dass die Russen überraschend schlecht oder gar nicht vorankommen. Das dauert eben, dauert praktisch so lange, bis den Verteidigern die Munition und das Essen ausgeht. // Aber ich kann nur davor warnen, dass man jetzt denkt: Naja, Kiew haben sie nicht hingekriegt, die russische Armee blamiert sich und das im Osten werden sie auch nicht hinkriegen.


Hendrik Holdmann (stern) Der Kriegsverlauf zeigt viel über die Fähigkeiten und auch die Taktik oder Taktiken der russischen Armee. Was kann die russische Armee eigentlich noch?


Gernot Kramper (stern) Viele Experten, und sicherlich auch ich, haben in vielen Prognosen falsch gelegen. Das will ich jetzt durchaus auch mal verteidigen, weil man natürlich dem Gegner nicht unterstellen will, dass er überhaupt nichts hinbekommt und so viele Fehler machen will. Man möchte ihn ja nicht unterschätzen. Und es hat sich aber gezeigt, dass die russische Armee große Fehler gemacht hat in der Planung, in der Durchführung. Ich habe das schon gesagt, es gibt Mängel auf jeder Ebene, die man jetzt nicht einzeln durchgehen kann. Das heißt, die Fähigkeiten der russischen Armee bemessen sich jetzt weniger daran, was theoretisch denkbar wäre, was es an Optionen gibt, sondern eher daran, was die russische Armee wirklich noch umsetzen kann. Und da sieht es insgesamt schon sehr schwer aus. Sie kommt nach wie vor im Osten voran, auch in Mariupol, allerdings sehr mühsam und sehr schwergängig wegen des Widerstandswillens der Ukrainer. Wobei man aber auch sagen muss, dass Häuserkampf und Städtekampf wie in Mariupol immer extrem grausam sind, aber tendenziell ihre Zeit brauchen.Da würde ich jetzt nicht sagen, dass die Russen überraschend schlecht oder gar nicht vorankommen. Das dauert praktisch so lange, bis den Verteidigern die Munition und das Essen ausgeht. Solange wird es, kann es Widerstand geben, wenn der Wille da ist. Aber insgesamt kommen sie da langsam voran. Und jetzt ist natürlich die Frage: Gelingt es Ihnen, aus Moskaus Sicht, die gesamten Truppen im Osten des Landes, die ukrainischen Truppen abzuschneiden, indem sie praktisch ihre Zangenbewegung vom Süden zum Norden fortsetzen und den Osten des Landes abzwacken. Wenn ich das mal so ausdrücken darf. Und das ist eine Operation, wo man normalerweise sagen würde, die bietet sich an und das würde eine Armee von der Größe der russischen Armee überhaupt auch sofort hinbekommen. Bloß in den letzten Wochen haben wir ja gesehen, dass viele Dinge, die man eigentlich hinbekommen müsste, dann doch so nicht klappen. Aber das ist tatsächlich die Möglichkeit für Putin. Und das ist auch die letzte Chance für Putin, diesen Krieg zu gewinnen. In dem Moment, wo die ukrainische Armee im Osten eingeschlossen und komplett eingesammelt wird – also am Ende aufgeben muss oder aufgerieben wird – hat der kriegt natürlich wiederum eine starke Wende. Weil das setzt die große Menge an russischen Truppen frei, die in der Ukraine kämpfen. Während es umgekehrt natürlich der Ukraine den Großteil der regulären Armee, also nicht der neu aufgestellten Verbände und der Reservisten, sondern der normalen Armee. Hier würde Kiew einen Großteil der normalen Armee in dem Moment verlieren und das wäre natürlich kaum wieder aufzuholen. Man kann sagen: Putin muss deutlich deutlich kleinere Pläne verfolgen. Aber wenn dieser Plan gelingen sollte, ist die Lage für die Ukraine ja nicht bereinigt, weil dann kommen sie praktisch von einer im Moment etwas glücklichen Lage, dass sie Kiew entsetzt haben, in eine sehr kritische Lage hinein, wenn sie die Armee im Osten verlieren. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Russland eben andere Optionen hat. Bis jetzt läuft das Ganze in Russland ja als bessere Polizeiaktion. So wird es verkauft. Deshalb sind es auch nur 200.000 Mann. Aber im Prinzip könnte Russland Reservisten einberufen und die Armee in der Ukraine nochmal deutlich verstärken. Und Offensiven wollen ja ununterbrochen genährt werden. Doch das hat man in Moskau offenbar vergessen, dass praktisch im Wochenabstand neue Truppenteile zugeführt werden müssen, um eine Offensive aufrechtzuerhalten. Das ist bis jetzt alles nicht geschehen. Vielleicht passiert es auch in Zukunft nicht, aber ich kann nur davor warnen, dass man jetzt denkt: Naja, Kiew haben sie nicht hingekriegt, die russische Armee blamiert sich und das im Osten werden sie auch nicht hinkriegen, weil im Prinzip kann Russland weiter eskalieren, auch konventionell. Und das sind Dinge, wo wir aber wenig wissen, warum das nicht gemacht wird. Es gibt ja auch keine Flächenbombardements aus großer Höhe und Ähnliches. Auch das wäre alles möglich. Oder wie ich schon mal gesagt habe; Russland hat bis jetzt eher in bescheidenem Massstab angefangen, zivile Infrastruktur oder Dual-use-Infrastruktur zu zerstören. Es werden jetzt Benzinlager angegriffen. Naja, das ist im Krieg ehrlich gesagt ziemlich normal. Aber es ist nicht so, dass die alle Straßen, alle Brücken und nun versuchen, alle Eisenbahnlinien zu kappen. Und das ist ja eigentlich eine naheliegende Idee, weil all die Waffen die wir liefern, die gehen nach Polen. Dann gehen sie vielleicht nur auf einen grenznahen Flughafen, aber dann müssen die in den Osten gebracht werden. Ich will sagen, warum Russland das nicht macht, warum sie so wenig Leute einsetzen, darüber kann man nur spekulieren. Aber sie haben in der Theorie zumindest die Möglichkeit, nach oben zu eskalieren, und zwar fast beliebig.

Die russische Armee hat im Ukraine-Krieg große Fehler gemacht. Nun könnte allerdings eine Einkesselung ukrainischer Truppen im Osten erfolgen. Welche Möglichkeiten hat Putin noch? Was ist von seiner Armee noch zu erwarten? Einordnungen von stern-Militärexperte Gernot Kramper.
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