Rückzug aus Nord-Ukraine "Seine letzte Chance": stern-Experte erklärt, welche Optionen Putin im Krieg noch bleiben

Russlands Präsident Wladimir Putin spricht über den Krieg in der Ukraine
Russlands Präsident Wladimir Putin spricht über den Krieg in der Ukraine
© Mikhail Klimentyev / AFP
Sehen Sie im Video: "Seine letzte Chance" – stern-Experte erklärt, welche Optionen Putin jetzt noch hat.
















Gernot Kramper (stern) Die Menge an Soldaten ist im Vergleich zu der Frontlänge enorm gering. // Jetzt, wo die Ukraine eine Chance hat, einen längeren Krieg durchzuhalten, macht es auch Sinn, größeres Gerät zu bringen. // Eine offene Niederlage im Ukraine-Krieg würde Putin ja politisch nicht überstehen. Also muss er eigentlich eskalieren.


Hendrik Holdmann (stern) Die Ukraine erobert weite Teile im Norden des Landes zurück. Inwieweit hat Putin hier eine Niederlage erlitten?


Gernot Kramper (stern) Also im Norden hat Putin auf jeden Fall eine Niederlage erlitten. Das muss man jetzt erst mal festhalten. Die russischen Truppen ziehen sich zurück. Sie sind offenkundig auch deutlich angeschlagen. Es sind keine frischen Truppen. Die Truppen müssen nach Belarus zurückbeordert werden und nach Russland, müssen neu aufgefrischt werden, um sie wieder in den Einsatz zu bringen. Das heißt, in den nächsten sieben, acht Tagen tauchen die nirgendwo auf. Das ist vollkommen ausgeschlossen. Die Ukraine hat erfolgreiche Gegenangriffe gemacht, aber sie ist nicht in der Lage gewesen oder nicht willens gewesen, die zurückweichenden Truppen zu verfolgen. An und für sich ist das die beste Gelegenheit, dem Gegner schwere Verluste zuzufügen. Man muss da natürlich sehr zeitnah in die Bewegung kommen. Hier ist es ja tatsächlich so, dass du immer so ein, zwei Tage dazwischen vergehen. Also die Russen bauen Abziehen ab und dann kommt die Ukraine hinterher. Wie hat die Ukraine, die Russen da eigentlich vertrieben? Also sie haben sie nicht aus den Dörfern rausgedrängt. Meine Erklärung wäre, dass einerseits die Russen viel zu viel Verluste erlitten haben, um das lange durchzuhalten. Und Putins Plan ist praktisch jetzt doppelt gescheitert. Der erste Plan war ja, Kiew irgendwie im Handstreich zu nehmen. Okay, das hat jetzt nicht geklappt. Die "glückliche Variante" aus Sicht des Kremls. Also ist man zu Plan B gegangen und hat eine Druck Position, um Charkow und Kiew aufgebaut und gewissermaßen einen Abnutzungskrieg zu beginnen. Das ist dann gewissermaßen, wie soll man sagen, so ein Fleischwolf, der aufgebaut wird. Man versucht den Gegner zu schwächen und lebt davon, dass man denkt, die verlieren füf Leute, wir verlieren einen. Und das hat aber offenkundig auch nicht funktionieren. Das liegt daran, weil die Russen sehr viel stärkere Verluste erlitten haben, weil ihre Versorgungslinien wurden unterbrochen und angegriffen und ihre Art der Kriegsführung funktioniert nicht. Die russische Art der Kriegsführung, die sehr sehr auf frontnahe Feuerunterstützung, also auf Artillerie und insbesondere auf diese Mehrfachraketenwerfer. Die verschlingen aber ungeheuer viel Nachschub gerade so ein Mehrfachraketenwerfer. Und diese Feuerkraft kann man nur aufbauen, wenn ununterbrochen Nachschub kommt. Und dann mag die russische Armee auch extrem stark sein, aber wenn diese Feuerwalze nicht permanent genährt werden, dann sieht das ganz anders aus. Also auch hier eine Niederlage. Grundsätzlich sagen ja viele, das es auch richtig: Russland ist am Widerstandswillen der Ukraine gescheitert, weil Russland ist mit vier oder fünf, je nachdem, wie man zählen möchte, Angriffsspitzen in das Land vorgedrungen. Und wir denken zuerst: Oh, 200000 Mann. 200000 Mann ist auch ganz schön viel. Jetzt teilen wir das mal durch vier oder fünf, da sind wir so bei 400000, 50000. Das sind aber nicht alles Kampftruppen. Und wenn die sich dann auf mehrere Städte verteilen, Nachschublinien sichern müssen, dann werden das immer weniger, immer weniger und dünnt sich ungeheuer aus. Und das hätte alles funktioniert, wenn die Ukrainer aufgegeben hätten oder nur einzelne Einheiten entschlossenen Widerstand geleistet hätten. Aber so funktioniert das eben nicht. Weil die Menge an Soldaten ist im Vergleich zu der Front Länge enorm gering.


Hendrik Holdmann (stern) Die Ukraine konnte ihre Hauptstadt halten. Welche Bedeutung hat das für den Kriegsverlauf?


Gernot Kramper (stern) Das ist auf jeden Fall ein Wendepunkt des Krieges. Das muss man, finde ich schon, kann man schon sagen. Ob es der Wendepunkt ist, muss sich zeigen. Aber es zeigt jedenfalls, dass die großen Ambitionen der russischen Seite gescheitert sind. Die Idee, dass man das Land praktisch in Stücke schneiden konnte, Durchbrüche erzielen würde von Osten, von Norden nach Süden oder es gar von Brest aus von Polen abschneiden könnte. Das ist alles passé, das ist deutlich gescheitert. Für die Ukraine hätte der Verlust Kiews das Ende des Krieges bedeutet. Es ist das politische Zentrum. Es ist das Herz des Landes und es ist auch ein Verkehrsknotenpunkt. Das ist alles abgewendet. Das heißt, solange Kiew lebt, lebt auch die Ukraine, lebt auch die demokratisch gewählte Regierung. Aber um es mal praktischer zu sagen: So lange besteht auch dieser Verkehrsknotenpunkt und man hat eine Chance, Ressourcen und Nachschubmittel aus dem Westen des Landes Richtung der Frontlinien, die jetzt noch vorhanden sind, im Osten und Süden zu bringen. Das wäre ja alles nicht möglich gewesen, wenn Kiew erobert worden wäre. Wenn Kiew erobert worden wäre, wäre der Krieg im Rest des Landes als Groß-Krieg zumindest zusammengebrochen. Über ein Guerilla und Partisanenkrieg … so etwas kann natürlich endlos weitergehen. Aber insofern ist es ein Wendepunkt des Krieges. Auch dass Putin jetzt gewissermaßen die Klein-Sieglösung anstrebt,  die Unterwerfung der gesamten Ukraine steht ja im Moment überhaupt nicht mehr an, jedenfalls ist das der Moment auf dem Feld nicht zu erkennen, sondern es geht mehr um den Süden und den Osten des Landes. Und das ist ja durchaus ein kleineres Kriegsziel.


Hendrik Holdmann (stern) Die Ukraine fordert ja schon lange, endlich schwere Waffen zu bekommen. Besonders ist auch dieser Forderung Nachdruck verliehen worden nach den Gräueltaten von Butscha. Was ist damit eigentlich gemeint mit schweren Waffen?


Gernot Kramper (stern) Um das zu erklären, muss man mal die Genese angucken, welche Waffen der Westen überhaupt liefert. Wir haben ja angefangen, an und für sich kleine Systeme zu liefern. Die sind sehr wirksam – also die Lenkwaffen, die man auf der Schulter tragen kann gegen Flugziele oder gegen Panzer. Aus Deutschland kam die Panzerfaust 3, dazu sind Gewehre geliefert worden, Maschinengewehre. Aber man kann sagen, dass das alles so Zeug, was man in so einen VW-Transporter auch hinten reinpacken kannst. Also es ist ja nicht weniger tödlich und nicht weniger gefährlich, aber bei Großgerät hat man sich zurückgehalten. Okay, dann hat meinetwegen die Bundesrepublik, wir sind ja auch immer so, wir ziehen uns ja ganz besonders. Dann hat man gesagt: Na ja, wir schicken jetzt Sanitätshaus-Unimog. Na ja, das ist natürlich ein Unimog mit einem Sanitätskreuz drauf. Und den kann man natürlich auch als Truppentransporter oder alles mögliche benutzen. Das ist eben so ein kleiner Gelände-gängiger LKW. Und ist aber natürlich schon mal größer. Das hört sich jetzt absurd an, aber so ein bisschen ist die Psychologie im Westen. Und allmählich eskaliert das auch weiter nach oben. Weil aus Australien sind, ja  Schützenpanzer ein bisschen viel gesagt, aber sagen wir trotzdem mal Schützenpanzer geliefert worden. Wir werden die alten BTRs aus der NVA, es sind auch Schützenpanzer liefern. Das ist ja immerhin schon mal ein ganz ausgewachsenes Gerät und das passt nicht in den Kofferraum. Und die Ukraine möchte im Prinzip alles an Großgerät haben. Das heißt Artillerie, schwere Mörser, Panzer, Flugzeuge ist ja schon genannt worden, Hubschrauber. Was davon Sinn macht, muss man natürlich sich überlegen, weil Flugzeuge machen natürlich nur Sinn, die in der Ukraine auch vertraut sind, weil man die Mechaniker und die Piloten ja nicht in kurzer Zeit ausbilden kann. Jetzt, wo die Ukraine eine Chance hat, einen längeren Krieg durchzuhalten, macht es auch Sinn, größeres Gerät zu bringen, weil man nicht nur auf die Idee kommen muss, von Freitag bis Sonntag zu planen. Was das sein kann, ist natürlich umstritten. Die Ukraine hat jedenfalls einen Bedarf und versucht natürlich, auf die Psychologie im Westen Rücksicht zu nehmen oder die Grenze immer weiter nach oben zu schieben. Und man muss sagen, diese Waffen kann man natürlich nicht bauen, sondern die müssen aus dem Bestand genommen werden. Also es kann ja keiner jetzt eine Panzerhaubitzen bestellen und die ist auch nicht in zwei Wochen fertig. Aber das ist im Prinzip möglich und auch sinnvoll. Und je nach System ist es auch möglich, zumindest gediente Reservetruppen auf dieses System umzuschulen.


Hendrik Holdmann (stern) Der Krieg dauert jetzt schon einige Wochen. Wie könnte er sich in den nächsten Tagen und Wochen weiter entwickeln?


Hendrik Holdmann (stern) Es wird ja keinen strahlenden Sieg Russlands mehr geben, wie man sich das in Moskau so vorgestellt hat. So wie bei den Mai-Siegesparaden mit klingendem Spiel in Kiew einmarschieren, das geht nicht. Aber gleich zu Beginn des Krieges haben auch Experten schon gesagt, man solle sich von manchen Bildern nicht täuschen lassen, weil das Russland hat schon immer, wie soll man sagen, lumpige Siege zusammengekriegt. Wo zerlumpte Truppen mit Pferdewagen und großen Kessel, Geschirr und schmutzigen Leuten. So sind sie in der napoleonischen Ära in Paris eingezogen und in Berlin. Und da haben in diesen Ländern auch manche Leute gedacht: Upps, wie konnten diese zerlumpten Typen unsere schöne Wehrmacht oder unsere alte Garde schlagen? Ist aber trotzdem passiert. Also das wird ein langsamer und schmutziger Krieg. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube, der Krieg wird noch weit grausamer als im Moment, weil beide Seiten durch die Berichte über Gräueltaten auf ihrer Seite die Bereitschaft von Soldaten zu Übergriffen und zu Brutalität anheizen. Das ist leider so. Also ich finde das vollkommen richtig, dass man diese Kriegsverbrechen auch benennt und dass man die Bilder teilt und dass das nicht geheimgehalten wird. Aber eine Folge wird sein, dass auch diese Bilder jetzt aus der Umgebung von Kiew, die verrohung auch der ukrainischen Soldaten steigern wird. Das wäre ganz unwahrscheinlich, dass das nicht passieren würde. Und für Putin ist das meiner Ansicht nach die letzte Chance. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob es ihnen gelingt, den Donbass zu "befreien" oder zu erobern, um das mal genauer zu sagen und ob es ihnen gelingt, den Ostteil des Landes abzuschneiden. Wenn das aber nicht gelingt, ist der Krieg für Russland hoffnungslos verloren. Und deshalb bin ich nur verhalten optimistisch. Weil eine offene Niederlage im Ukraine-Krieg würde Putin ja politisch nicht überstehen. Also muss er eigentlich eskalieren. Das ist so, zumindest meiner Meinung nach. Und wie immer das auch aussehen mag. Aber wenn seine Truppen, die er eingesetzt hat, das nicht schaffen muss, er neue Truppen zuführen oder andere Methoden anwenden. Und die Idee, die Truppen, die jetzt aus Kiew angeschlagen zurückgezogen sind, die kann er jedenfalls nicht am Ende der nächsten Woche im Osten des Landes einsetzen. Dass das absolut ausgeschlossen. Das wäre selbst bei frischen Truppen nicht möglich, die so schnell zu verlagern. Das heißt, dass ist auch nach wie vor eine kritische Situation. Bloß kann sich jeder selbst überlegen: Ist es für Russlands Regierung, eine Option, zuerst um Charkow und Kiew sich zurückzuziehen und im Donbass jetzt eventuell das Gleiche zu riskieren? Das ist eigentlich politisch keine Option. Also würde ich sagen, so tapfer die Ukraine sich verteidigt, da muss man auf weitere Eskalation und schlimme Überraschungen noch gefasst sein.

Russlands Armee zieht sich aus dem Norden zurück, Kiew wurde erfolgreich von der Ukraine verteidigt. Was bedeutet das für den Kriegsverlauf? Welche Optionen hat Putin noch? stern-Militärexperte Gernot Kramper analysiert die aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Krieg.
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