Nach dem Absturz der Präsidentenmaschine Polen erlebt einen Kennedy-Moment

Als John F. Kennedy starb, stand Amerika still - wie jetzt Polen. Hier beschreibt der in Polen erfolgreiche deutsche Kabarettist Steffen Möller, wie das Volk mit seiner Trauer umgeht.

In diesen für Polen so tragischen Tagen wird etwas sichbar, was normalerweise nur in Sonntagsreden und zu innenpolitischen Propagandazwecken beschworen wird, nämlich die "Nation". Wie also ist sie beschaffen, die Seele der polnischen Nation?

Einen Tag nach der Katastrophe telefonierte ich mit Freunden, die in einer Kleinstadt bei Warschau wohnen. Es war gerade Sonntag Mittag, und ich erwischte genau den Moment der beiden landesweiten Schweigeminuten. Meine Freunde standen am offenen Küchenfenster und lauschten einer fernen Musik. Dann erkannten wir die Melodie. Es war das berühmte Hejnal-Trompetensignal, das zu jeder vollen Stunde vom Turm der Krakauer Marienkirche gespielt wird, zur Erinnerung an die Belagerung der Stadt durch die Mongolen im Jahr 1241. Hier in der masowischen Kleinstadt wurde es an diesem Sonntag nicht ganz lupenrein von einem Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr geblasen, und dank der kleinstädtischen Sonntagsstille hörte ich die Trompete sehr deutlich im Telefon. Der plötzliche Tod Lech Kaczynskis, des Präsidenten, das Sterben von dessen gesamter Entourage, hat das Land schwer getroffen. Die Menschen sind ergriffen, der Schockzustand erinnert an die Stille, die Amerika 1963 nach der Ermordnung John F. Kennedys erfasste.

Zur Person

Steffen Möller ist ein deutscher Schauspieler und Kabarettist, der seit 1994 in Polen lebt. Dort ist unter anderem aus den Fernsehprogrammen "Europa da się lubić" (dt. "Europa lässt sich mögen"), "M jak miłość" (dt. "L wie Liebe") und "Załóż się" (ähnlich wie "Wetten, dass..?") bekannt.

Wäre eine ähnliche Großherzigkeit in Deutschland denkbar?

Vergleichbares ereignete sich in Polen zuletzt vor exakt fünf Jahren, beim Tod von Johannes Paul II. Auch damals war das Land im Ausnahmezustand, läuteten Glocken, wurden spontane Straßenmessen abgehalten, Tausende ewiger Lämpchen angezündet, und die vierspurige Johannes-Paul-Allee in Warschau verwandelte sich innerhalb weniger Tage in ein Blumenmeer.

Damals aber war niemand überrascht von den Szenen nationaler Geschlossenheit. Der Papst galt bereits zu Lebzeiten als Legende - während es sich bei Lech Kaczyński um einen ziemlich umstrittenen Präsidenten handelte, dem nur geringe Chancen auf die Wiederwahl eingeräumt wurden.

Seit dem Doppel-Wahlsieg der Brüder Kaczyński im Jahr 2005 zog sich ein tiefer Graben durch Polen. Jedes Schulkollegium und jede Familie war von heftigen Diskussionen zwischen Liberalen und Konservativen geprägt, wie man sie in Deutschland allenfalls in den sechziger Jahren erlebt hat.

Doch all das ist nun plötzlich nicht mehr wichtig. So wie beim Tod des Papstes auch viele Atheisten auf die Straße gingen (die es im katholischen Polen weitaus zahlreicher gibt, als man im Westen weiß), legten diesmal vor dem Warschauer Präsidentenpalast auch solche Menschen Blumen nieder, die vor kurzem noch deftige Witze über die Zwillingsbrüder erzählt hatten. Ob eine ähnliche Großherzigkeit auch in Deutschland denkbar wäre? Sicherlich ist es charakteristisch für die Polen, dass sie eher von traurigen als von freudigen Anlässen bewegt werden. Kaum ein europäischer Nachbar dürfte im Trauern so geübt sein wie dieses Land, das aufgrund seiner geographischen Lage immer wieder zum Aufmarschgebiet fremder Armeen wurde, ob nun schwedischer, russischer, österreichischer oder deutscher. Eine "Unfähigkeit zum Trauern" kann man den Polen jedenfalls nicht nachsagen.

Überwältigende Anteilnahme der Russen

"Warum wir?" fragen sich viele denn auch jetzt - und beziehen sich damit auf die Auslöschung ihres Staates im 18.Jahrhundert oder auf die vielen blutig niedergeschlagenen Aufstände im 19.Jahrhundert, bis hin zur Okkupation durch Deutsche und Russen zwischen 1939 und 1989. Die Lokalisierung des Flugzeugunglücks nahe dem verfluchten Ort "Katyn" scheint die fatale Kontinuität der Geschichte nur zu bestätigen. Man rückt zusammen, wildfremde Menschen drücken auf der Straße einander die Hand - fast so, als wäre mal wieder ein äußerer Feind ins Land eingefallen.

Doch je mehr Zeit seit der Katastrophe vergeht, desto anders wird das Ereignis bewertet. Der Flugzeugabsturz war ein tragisches Unglück und kein Symptom für die derzeitige Situation Polens. Ganz im Gegenteil. Die letzten zwanzig Jahre dürfen vermutlich die glücklichste Epoche in der neueren Geschichte des Landes genannt werden. Selbst im Krisenjahr 2009 hat Polen als einziger von 27 EU-Staaten ein positives Wirtschaftswachstum erlebt. Auch das Verhältnis zum Nachbar Russland hat sich verbessert. Die gute Kooperation zwischen den Premiers Putin und Tusk hatte sich schon wenige Tage vor der Katastrophe bei der Gedenkfeier von Katyn bewährt. Die überwältigende Anteilnahme der Russen nach der Katastrophe, bis hin zur Ausrufung der offiziellen Staatstrauer, könnte jetzt sogar dazu beitragen, dass auf polnische Seite eine dankbare Sympathie entsteht, wo bislang nur Misstrauen herrschte.

Eine hochkomplizierte Seelenlandschaft

Und so ist den Polen zu wünschen, dass sie bald zurückfinden in den Alltag - der ja in diesem Land alles andere als trübsinnig ist. Die Fähigkeit zum Trauern ist möglicherweise sogar gerade dort am ausgeprägtesten, wo auch die Fähigkeit zum Feiern und zum Lachen so überreich existiert wie in Polen. Jedenfalls ist es genau diese Mischung von Melancholie und selbstironischem Humor, die mich persönlich nun seit vielen Jahren an diesem Land so fasziniert.

Zu wünschen wäre darüber hinaus uns Deutschen, dass gerade auch die traurigen Ereignisse des Aprils 2010 uns neugierig machen auf das unbekannteste unter unseren Nachbarländern. Wer es wagt und sich auf eine Expedition zu den Polen begibt, wird eine faszinierende, sympathische, freilich auch hochkomplizierte Seelenlandschaft entdecken.

Steffen Möller