Spanien Reform auf Eis

Die Kassen sind gefüllt und keiner spricht von Reform. Was paradiesisch klingt, hat dennoch Haken: Bei den ausgezahlten Renten und der Arbeitslosen- und Sozialhilfe handelt es sich um Hungerbeträge.

Die Frage der Renten und des Sozialsystems scheint die Spanier wenig zu interessieren. Während in anderen europäischen Ländern die Krise des Sozialstaats heftige Debatten oder - wie in Frankreich - gar einen Streik auslöste, spricht in Spanien kaum jemand davon. Nicht einmal im Wahlkampf vor den in gut einer Woche anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen.

Dass das Thema der sozialen Sicherheit nur eine untergeordnete Rolle spielt, liegt unter anderem daran, dass die spanische Sozialversicherung nicht knapp bei Kasse ist. Sie hat sogar Geld im Überfluss. Fünf Jahre hintereinander erwirtschaftete sie einen Überschuss. Für 2003 wird ein Plus von 3,9 Milliarden Euro erwartet. So konnte die staatliche Rentenversicherung mittlerweile einen Reservefonds mit einem Guthaben von 7,4 Milliarden Euro für schlechtere Zeiten anhäufen.

Einnahmeplus aufgrund des Wirtschaftbooms

Das riesige Plus erklärt sich auf der einen Seite daher, dass die Einnahmen stärker zunahmen, als die Experten erwartet hatten. Durch den Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre entstanden neue Arbeitsplätze. Immer mehr Frauen gingen in das Berufsleben und wurden damit zu Beitragszahlern. Hunderttausende von Einwanderern erhielten Arbeitsgenehmigungen und zahlten nun ebenfalls Beiträge, nachdem sie vorher schwarzgearbeitet hatten.

So stieg die Zahl der Beitragszahler auf 16,4 Millionen an, die höchste in der spanischen Geschichte. Auf der anderen Seite ist die Zahl der Spanier, die in Pension gehen, relativ gering. Derzeit sind es nämlich die schwachen Jahrgänge der Bürgerkriegszeit (1936-1939), die das Rentenalter erreichen. Die Zahl der Rentner ist mit 7,9 Millionen etwa halb so groß wie die der Beitragszahler.

Kein Modell für einen Sozialstaat

Dennoch ist Spanien kein Rentner-Paradies und auch kein Modell eines Sozialstaates. Die Leistungen der Rentenversicherung liegen erheblich unterhalb des Niveaus in den Staaten Mittel- und Nordeuropas. Etwa die Hälfte der spanischen Rentner muss mit weniger als 600 Euro im Monat auskommen.

Bei der Arbeitslosen- oder der Sozialhilfe sieht es kaum anders aus. "Dies ist auch der Grund, weshalb viele in Spanien lebende Deutsche sich nicht bei den Einwohnerbehörden anmelden", erläutert ein Experte. «Sie behalten einen Zweitwohnsitz in Deutschland, weil sie nicht in die spanische Krankenversicherung oder Sozialhilfe geraten möchten.»

Ab 2030 Engpässe in der Rentenkasse erwartet

Spaniens Rentenversicherung profitiert auch davon, dass die Alterung der Gesellschaft mehrere Jahre später einsetzt als in anderen europäischen Ländern. "Dies verschafft uns eine Atempause bis wenigstens zum Jahr 2015", sagt der Staatssekretär für soziale Sicherheit, Gerardo Camps. Erst dann drohen Engpässe. Ab 2030 wird nach den Prognosen sich auch in Spanien die Lage so sehr zuspitzen, dass das Rentensystem dann in der jetzigen Form nicht mehr finanzierbar sein wird.

Bis dahin besteht wenig Grund zur Eile. Die Regierung kam mit den Gewerkschaften überein, die Pläne für eine Rentenreform auf Eis zu legen und erst im nächsten Jahr Verhandlungen aufzunehmen. Der konservative Ministerpräsident José María Aznar hatte zudem mit Einschnitten ins soziale Netz schlechte Erfahrungen gemacht. Vor einem Jahr beschloss das Kabinett per Dekret, die Bedingungen für den Erhalt von Arbeitslosengeld zu verschärfen. Die Gewerkschaften antworteten mit einem Generalstreik. Dieser scheint die Regierung so beeindruckt zu haben, dass sie einen Teil der Maßnahmen abmilderte oder ganz zurückzog. Seither zeigt die Aznar-Regierung wenig Neigung, das heiße Eisen der Sozialreformen anzufassen.

Hubert Kahl