Ukraine-Krieg Was hinter der Umgruppierung russischer Truppen stecken könnte

Umverteilung russischer Truppen
Pro-russische Soldaten marschieren in der Nähe eines ukrainischen Armeestützpunktes in Perewalne auf der Krim.
© Vadim Ghirda / AP / Picture Alliance
Russland hatte angekündigt, seine Truppen aus der Ukraine teilweise zurückzuziehen. Grund zur Hoffnung ist das jedoch nicht. Die Angriffe auf ukrainische Städte gehen trotzdem weiter. Was wollte Russland also mit dem Versprechen bezwecken?

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch heulten in der Ukraine vielerorts wieder die Sirenen. Russische Bomben fielen vor allem über der Stadt Tschernihiw. Bei Tageslicht wurde das Ausmaß des Angriffs schließlich deutlich: Nach Angaben des Gouverneurs Wjatscheslaw Tschaus wurde bei dem Angriff die zivilie Infrastruktur zerstört. Zudem sei die ehemelas 280.000 Seelen große Stadt noch immer ohne Strom und Wasser. Ähnliches ereignete sich in Kiew. "In den letzten 24 Stunden haben die Russen 30 Mal bewohnte Viertel und zivile Infrastruktur in der Region Kiew bombardiert", sagte der Gouverneur der Region, Olexander Pawljuk. Am stärksten betroffen sei der Vorort Irpin, der nach ukrainischen Angaben am Montagabend von den russischen Truppen "befreit" worden war. 

Die Angriffe sind ernüchternd. Denn kurz zuvor hatte Russland angekündigt, seine Truppen zumindest teilweise zurückzuziehen. Es sollte ein Zeichen des Entgegenkommens sein. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von "positiven" Signalen, gleichzeitig nahm man das Versprechen aus Moskau in Kiew skeptisch auf.

"Der sogenannte 'Truppenabzug' ist wahrscheinlich eine Rotation einzelner Einheiten, die darauf abzielt, die militärische Führung der ukrainischen Streitkräfte zu täuschen", vermutete der ukrainische Generalstab bereits am Dienstag. Nach der Bombardierung steht auch für den Berater des ukrainischen Innenministers, Wadym Denysenko, fest: "Im Moment kann man leider nicht feststellen, dass die Russen die Intensität der Feindseligkeiten in Richtung Kiew und Tschernihiw verringern."

Ukrainischer Botschafter: Putin will "in die Irre führen"

Zwar habe das Militär einige Einheiten von Kiew und Tschernihiw abgezogen, heißt es in einem Lagebericht der ukrainischen Militärführung. Allerdings solle damit ein falsches Bild von dem angeblich eingestellten Plan zur Einkesselung Kiews geschaffen werden. Es gebe Anzeichen, dass diese Einheiten an anderer Stelle im Osten der Ukraine eingesetzt werden sollen.

Auch der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, wies die russische Ankündigung als "Täuschungsmanöver" zurück. "Wir glauben, diese 'versöhnliche' Rhetorik aus Moskau ist nichts anderes als Bluff und Nebelkerzen, um einerseits von der militärischen Blamage des Kreml in der Ukraine abzulenken", sagte Melnyk den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwochsausgaben). 

"Andererseits geht es heute Putin auch darum, den Westen – auch Deutschland – in die Irre zu führen", sagte er weiter. Es gehe darum, Friedenswillen vorzutäuschen und dem Westen vorzugaukeln, dass die Ukraine sich auch ohne Unterstützung verteidigen könne. "Diese Zeit wird Russland nutzen, um seine Kräfte umzugruppieren, neue wehrpflichtige Soldaten zu schicken und logistischen Nachschub zu sichern."

Pentagon und London rechnen mit großer Offensive

Auch der Westen zeigte sich skeptisch. Pentagon-Sprecher John Kirby sagte, es sei bislang nur zu beobachten, dass sich "eine sehr kleine Zahl" russischer Truppen nördlich von Kiew von der ukrainischen Hauptstadt wegbewege. "Wir glauben, dass es sich um eine Repositionierung handelt, nicht um einen Abzug, und dass wir alle vorbereitet sein sollten, eine größere Offensive gegen andere Teile der Ukraine zu erwarten." Kiew könne weiter mit Raketen beschossen werden: "Die Bedrohung für Kiew ist nicht vorbei." Es sei außerdem möglich, dass die Soldaten dort nur abgezogen würden, um in einem anderen Teil der Ukraine, etwa der umkämpften östlichen Donbass-Region, eingesetzt zu werden.

Experte zum Ukraine-Krieg: "Invasion wird brutaler und blutiger, als Putin wollte"
Experte zum Ukraine-Krieg: "Invasion wird brutaler und blutiger, als Putin wollte" 
Experte zu Russlands Invasion: "Wird brutaler und blutiger, als Putin wollte"

Auch nach Einschätzung britischer Geheimdienste zogen sich einige russische Einheiten nach schweren Verlusten nach Belarus und Russland zurück, um Nachschub zu organisieren und sich neu aufzustellen. Man rechne damit, dass Moskau seine geschwächte Kampfstärke am Boden durch verstärkte Raketenangriffe kompensieren werde.

Trotzdem betrachtet britische Militäraufklärung die russische Offensive zur Einkesselung der ukrainischen Hauptstadt Kiew als gescheitert. Das verlautete am Dienstagabend aus einem Update des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen. Zudem ließen die russische Ankündigung, den militärischen Druck auf Kiew zu senken, sowie Berichte über den Abzug russischer Truppen darauf schließen, dass Russland seine Initiative in der Region verloren habe.

Britische Militärexperten hielten es nunmehr für "höchst wahrscheinlich", dass Russland seine Kampfkraft aus dem Norden der Ukraine in den Südosten des Landes verlege. Dort solle jetzt die Offensive in der Region Luhansk und Donezk verstärkt werden.

Auch Ukraine geht von weiteren Angriffen aus

"Die russische Armee hat immer noch ein großes Potenzial, um die Angriffe auf unseren Staat fortzusetzen", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. Deshalb werde die Ukraine ihre Verteidigungsanstrengungen nicht verringern. Auch sollte es keinerlei Aufhebung von Sanktionen gegen Russland geben. Dies "kann erst in Betracht gezogen werden, wenn der Krieg vorbei ist und wir zurückbekommen, was uns gehört". Die Verteidigung der Ukraine bezeichnete Selenskyj als "unsere Aufgabe Nummer eins". Nur auf dieser Grundlage könne mit Russland weiter verhandelt werden. "Der Feind befindet sich weiterhin auf unserem Gebiet." Realität sei, dass die ukrainischen Städte weiter belagert und beschossen würden. Daher seien die ukrainischen Streitkräfte "die einzige Garantie für unser Überleben", sagte Selenskyj. "Ukrainer sind nicht naiv."

Botschafter Melnyk versicherte, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sein Hauptziel, "die ukrainische Staatlichkeit zu eliminieren und Kiew einzunehmen oder zu zerstören", nicht aufgegeben habe. Er sprach sich erneut für eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland aus. "Vor allem das Moratorium auf Energie-Importe aus Russland soll unverzüglich eingeführt werden. Der Geldstrom – rund eine Milliarde Euro pro Tag – in die Putinsche Kriegskasse muss trockengelegt werden, um das Blutvergießen zu stoppen."

Derweil verlegen die US-Streitkräfte weitere Kampfflugzeuge, Transportmaschinen und Soldaten nach Osteuropa. Eine Einheit von rund 200 Marineinfanteristen aus den USA sei nach einem Manöver in Norwegen nach Litauen verlegt worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby. Zudem würden aus den USA zehn Kampfflugzeuge vom Typ "F/A-18 Hornet" und "ein paar" Transportmaschinen vom Typ "C-130 Hercules" mit rund 200 dazugehörigen Soldaten nach Osteuropa gebracht.

AFP · DPA
cl