Verhandlungen in der Türkei Ukraine stellt die eigene Neutralität in Aussicht – was würde das bedeuten?

Auf einer Demonstration gegen den Ukraine-Krieg hält ein Demonstrant ein Schild mit der Karte der Ukraine
Ist eine neutrale Ukraine wirklich eine Option? Die von Russland angeführten Beispiele hinken zumindest.
© Alessandra Tarantino / DPA
Seit 35 Tagen tobt in der Ukraine ein Krieg. Bei Verhandlungen in der Türkei stellt die Ukraine nun in Aussicht, den von Russland geforderten neutralen Status einzunehmen. Wie realistisch ist dieses Szenario? Und was wären die Konsequenzen?

Seit 35 Tagen befindet sich die Ukraine im Krieg mit Russland. 35 Tage, die beide Ländern aufgerieben haben. Nun scheinen beide Seiten mit so etwas wie einer Annäherung zu liebäugeln. 

Bei den derzeitigen Verhandlungen in Istanbul ist ein Wort von zentraler Bedeutung, um das Sterben auf beiden Seiten zu beenden: "Neutralität". Schon vor Beginn seines Angriffs forderte Russlands Präsident Wladimir Putin die Neutralität der Ukraine, da er sich von einem möglichen Beitritt der Ukraine in die EU oder gar in die Nato bedroht fühle. Nun stellte auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Aussicht, ein neutraler Status wäre in den Gesprächen eine Option, um den Krieg zu beenden. Aber was würde ein solcher Status bedeuten?

Was würde die Neutralität der Ukraine bedeuten?

Russland verwies in den vergangenen Wochen bei seiner Forderung nach einer neutralen Ukraine immer wieder auf die Vorbilder Österreich, Finnland und Schweden. Allerdings scheinen beide Seiten in diesem Zusammenhang fundamental unterschiedliche Interpretationen zu haben, was genau "Neutralität" bedeutet.

Grundsätzlich bedeutet die Neutralität eines Staates in erster Linie die Bündnisfreiheit. Ein Nato-Beitritt der Ukraine wäre damit also vom Tisch. Unangetastet bleibt in diesem Zusammenhang allerdings das Recht auf Selbstverteidigung. Auch neutrale Länder sind berechtigt, eine Verteidigungsarmee zu stellen. Schon das steht im Widerspruch mit Putins Plan, die Ukraine zu "entmilitarisieren". Zudem forderte der russische Präsident in einer Rede vor dem Einmarsch seiner Truppen, die Ukraine zu "denazifizieren". Dies käme einem Regierungswechsel gleich. Putin versteht in diesem Zusammenhang also offenbar als Neutralität einen unbewaffneten Vasallen-Staat, auf den er uneingeschränkt Einfluss üben kann.

Ukraine war bis 2014 bereits formell neutral

Russlands Forderungen wirken zudem so befremdlich, weil die Ukraine auf dem Papier seit seiner Unabhängigkeit 1991 bis zur Annexion der Krim 2014 neutral war. Durch die völkerrechtswidrige Eroberung der Halbinsel hat Russland mit der Vereinbarung aus dem Budapester Memorandum von 1994 gebrochen. Damals einigten sich Kiew und Moskau darauf, dass Russland die Souveränität, Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der ukrainischen Grenzen achtet und die Ukraine im Gegenzug seine Nuklearwaffen aufgibt, die das Land noch aus dem Nachlass der Sowjetunion besaß.

Nach dem russischen Angriff drehte sich der Wind in Kiew – bis das ukrainische Parlament mit großer Mehrheit Anfang 2019 dafür stimmte, seine Neutralität aufzugeben und sich in Richtung Westen zu orientieren. Seitdem sind die Beitritte in die EU und die Nato Staatsziel und in der Verfassung verankert. Sollte sich die Ukraine also zu einem neutralen Status bereiterklären, müsste die Verfassung erneut geändert werden.

Keine Vergleichbarkeit mit anderen Europäischen Ländern

Abgesehen vom administrativen Aufwand hinken die Vergleiche zu neutralen europäischen Vorbildern wie Österreich auch in anderer Hinsicht. Die Alpenrepublik war nach dem Zweiten Weltkrieg wie Deutschland von den Alliierten Mächten besetzt. 1955 wurde in der österreichischen Verfassung eine "immerwährende Neutralität" gesetzlich verankert. Die Sowjetunion konnte so zum Abzug bewegt werden. 

Im Gegenzug zu dieser "Neutralität von oben" wählte sie Schweden freiwillig. Und sie hat Bestand – seit nun mehr als 200 Jahren, nachdem das Land im Krieg gegen Russland 1809 seinen Landesteil Finnland abtreten musste. Die Finnen selbst erkämpften sich 1917 ihre Unabhängigkeit und sind seitdem neutral. 

In allen drei Beispielen ist die Neutralität in den vergangenen Jahrzehnten jedoch aufgeweicht. Zwar sind die drei Länder keine Mitglieder in der Nato, jedoch in der Europäischen Union. Und auch die EU hat ähnlich der Nato eine gemeinsame Sicherheitspolitik, die vergleichbar mit dem sogenannten "Bündnisfall" der Nato ist – wonach der Angriff auf ein Mitgliedsland als Angriff auf das gesamte Bündnis gewertet wird.

Zwei von drei Beispielen könnten schon bald hinfällig sein

Finnland und Schweden beteiligen sich zudem an Nato-Truppenübungen. Insbesondere für Finnland als direkter Nachbar Russlands wird der Nato-Beitritt und damit ein Schutz des Bündnisses immer attraktiver. In Schweden könnte der Nato-Beitritt bei den Parlamentswahlen im Herbst das zentrale Thema werden.  

Zwei der drei von Russland angeführten Beispielen neutraler Staaten könnten also schon bald hinfällig sein. Und Österreich ist auf Grund seiner geo-strategischen Lage wohl kein passender Vergleich. 

Schlussendlich wäre die Ukraine auch als neutraler Staat auf sicherheitspolitische Garantien angewiesen. Russland hat diese Garantien mit aller Deutlichkeit mehrfach gebrochen. Woher das Vertrauen der Ukraine erwachsen soll, im Falle der Neutralität nicht erneut vom Nachbarland angegriffen zu werden, ohne das Abschreckungsszenario der Nato oder mindestens der EU im Rücken, ist fraglich.