Auszeit für die Familie "Wir brauchen Zeit für die Liebe"

Eine Auszeit nehmen, weil der Ehepartner, die Eltern oder die Kinder plötzlich Hilfe brauchen - das kann für einen Arbeitnehmer schwierig, manchmal existenzbedrohend sein. Mit Hilfe eines Lebensarbeitzeitmodells stünde diese Möglichkeit jedem offen, sagt Professor Hans Bertram im stern.de- Interview.

Professor Bertram, für die meisten Arbeitnehmer ist schwerer, aus dem Betrieb auszusteigen, als für einen 67-jährigen Minister. Normalerweise muss man mit seinem Job die Familie über Wasser halten.

Deshalb haben wir in unserem siebten Familienbericht ein Lebenszyklusmodell entwickelt, in dem Auszeiten für die Fürsorge für andere möglich sind. Das fordert auch die EU. In Holland versucht man es bereits auf Gesetzesebene zu realisieren.

Der Experte

Professor Hans Bertram ist Mikrosoziologe an der Humboldt-Universität in Berlin und Mitglied der Agenda-Gruppe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

So etwas wie das Elterngeld?

Ja, wir müssen die Hilfe für die ältere Generation nach dem gleichen Modell realisieren. So dass jemand, der eine solche Fürsorge übernimmt, eine ökonomische Unterstützung bekommt, um dann nach einer bestimmten Zeit wieder beruftätig zu werden.

Aber die Zeit fehlt dann bei der Rente.

Die Niederländer haben das so gelöst, dass die Auszeit an die Gesamtlebensarbeitzeit wieder drangehängt wird. Die Leute arbeiten etwas länger als bis 65 oder irgendwann 67.

Das würde auch ein Sabbatjahr erleichtern.

Die Niederländer beziehen das Modell auch auf die Weiterbildung. Denn in der modernen Gesellschaft qualifiziert man sich nicht einmal in der Ausbildung, sondern immer neu.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Und wie ist es mit einer Auszeit am Strand?

Dazu sind die Niederländer zu pietistisch. Und wir auch.

Der Einzelne arbeitet heute weniger. Aber die addierte Arbeitszeit von Paaren hat sich seit den fünfziger Jahren statistisch von 48 auf 72 Stunden erhöht.

Ja, und damals gab es das Pflegeproblem nicht in dem Ausmaß wie heute. Die Menschen werden älter und damit steigt der Anteil der sehr Alten. Und so müssen heute sehr Viele kurzfristig eine Fürsorge übernehmen. Und deshalb empfinde ich Münteferings Entscheidung nicht nur persönlich so hoch achtenswert, sondern auch politisch so wichtig. Damit endlich die gesellschaftliche Diskussion darüber beginnt.

Auszeit für die Familie

Vizekanzler Franz Müntefering hat sich entschieden: für seine krebskranke Frau Ankepetra, gegen Macht und Karriere. In solchen Momenten scheint alles klar - und trotzdem fragt sich jeder: Was hätte ich getan? Im aktuellen stern erzählen Menschen über grundlegende Weichenstellungen ihres Lebens.

Wie lange sollte denn eine Auszeit dauern?

Die Ministerin Ulla Schmidt hat einen Vorstoß gemacht: drei Wochen.

Das ist doch gerade mal ein Urlaub.

Sie war da sehr bescheiden, aber selbst das ist in der politischen Auseinandersetzung gekippt worden. Ich denke, wir sollten uns auch bei der Dauer der Auszeit an der Regelung für Kinder orientieren, also 14 Monate. Und wir haben in der Zeitregel ja auch noch eine Option bis auf drei Jahre.

Das wäre eine sehr lange Auszeit.

Meist geht es doch gar nicht um eine dauerhafte Pflege, sondern um eine Überbrückung in einer Notsituation. Aber generell: Wir nutzen die längere Lebenserwartung völlig falsch. Die Lebensarbeitszeit verkürzt sich, und die Arbeitsintensität erhöht sich drastisch. Wir sollten die Arbeit durch die gewonnenen Lebensjahre entspannen und uns Auszeiten nehmen. Stattdessen verschließen wir vor dem Problem der alternden Gesellschaft die Augen und überlasten die Familien.

Das Bewusstsein für die Belastungen der Familie scheint bei denen, die politisch entscheiden, noch nicht angekommen zu sein.

Vielleicht, weil viele Politiker traditionell leben und denken, das wird ihre Frau schon regeln.

Und weil sie nicht wissen, wie sie so etwas wie ein Großelterngeld finanzieren sollten.

Aber es geht doch nicht immer um viel Geld. Generell geht es vielen Menschen heute nicht um mehr Geld, sondern mehr Zeit. Wir brauchen Zeit für die Kinder und Zeit für die Liebe.

Interview: Kuno Kruse

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