Bärbel Höhn "Bei mir läuten die Alarmglocken"

Die Vogelgrippe zieht übers Land - auch deswegen, weil die Seuchenbekämpfung auf Rügen versagt hat. stern.de sprach mit der ehemaligen nordrhein-westfälischen Agrarministerin Bärbel Höhn über Notfallpläne, Impfungen und die Lust auf Hähnchenfleisch.

Frau Höhn, was ist bei der Seuchenbekämpfung auf Rügen falsch gelaufen?

Man war auf diesen Fall nicht vorbereitet. Die Landrätin sagte, sie habe nur vier Leute und ein Auto und könne deswegen nicht alles schaffen. Eigentlich hätte ein Notfallplan existieren müssen, der vorher geübt wurde. Dann hätte man sofort gewußt, dass man mehr Personal, mehr Schutzanzüge und ähnliches braucht. Dass es das alles nicht gab, ist ein auch Versäumnis des Landesministers.

Welche Konsequenzen hat das gehabt?

Es hat sechs Tage gebraucht, bevor der "Schnelltest" gezeigt hat, dass die Tiere wirklich infiziert sind. Und das Einsammeln der Schwäne hat auch viel zu lang gedauert. Dadurch konnte sich das Virus schnell weiterverbreiten. Aus zwei infizierten Tieren sind dann plötzlich 81 geworden.

Existieren in anderen Landkreisen solche Notfallpläne?

Der Bundesminister sollte schleunigst eine Task Force installieren, um die Nofallpläne der Länder zu überprüfen. Und zwar unter zwei Aspekten. Erstens: Sind die Notfallpläne ausreichend? Zweitens: Gibt es Katastrophenschutzübungen, bei denen solche Pläne praxistauglich durchgespielt werden?

Informationen über die Vogelgrippe

Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat eine Hotline für Bürger eingerichtet, die Fragen zur Vogelgrippe haben. Sie ist von Montag bis Freitag zwischen 9 und 17 Uhr unter den Telefonnummern 01888-529-4601 oder -4602,-4603,- 4604,und -4605 erreichbar.

Weitere Informationen findet man im Internet auf den Seiten des Agrarministeriums, des Friedrich-Loeffler-Instituts und des Robert-Koch-Instituts.

Auf Rügen werden nun auch gesunde Tiere gekeult. Ist das vom Standpunkt des Tierschutzes überhaupt zu vertreten?

Wenn man beim Ausbruch einer Seuche langsam reagiert, muss man hinterher umso drastischere Maßnahmen ergreifen. Das ist das Problem. Unabhängig davon kann man, wie wir es bei der Geflügelpest in Nordrhein-Westfalen 2003 gemacht haben, in gewissem Maße impfen. Wir haben damals die Tiere in Zoos geimpft, die Zuchttiere und die Tiere von nicht kommerziellen Haltern. Hinter diesen Standard sollte man nicht zurückfallen. Die EU-Politik "Töten statt Impfen" ist falsch.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Impfungen sind sehr umstritten, Verbraucherminister Seehofer sagt, diese Maßnahme "maskiere" die Krankheit nur.

Ich habe mich sehr lange mit der Impfproblematik auseinander gesetzt - und dieses Argument teile ich nicht. Es gibt Möglichkeiten, auch bei geimpften Tieren infizierte von nicht infizierten unterscheiden und den Verlauf der Seuche beobachten. Die EU hat ein wirtschaftliches Interesse, nicht zu impfen...

... weil die Tiere dann nicht mehr exportiert werden dürfen ...

... und das ist für mich kein ausreichendes Argument, zumal Deutschland keine Exportnation von Geflügelfleisch ist. Wenn sogar Exportnationen wie Frankreich und die Niederlande Impfungen erwägen, dann gibt es für mich keinen Grund, das hier nicht zu tun.

Auf Rügen wird nun auch die Bundeswehr eingesetzt, um Tiere einzusammeln und Autos zu desinfizieren. Wie sehen Sie die Rolle der Bundeswehr in solchen Fällen?

Ich will das nicht kritisieren. Aber man hätte den Einsatz vermeiden können, wenn man vorher professioneller gehandelt hätte.

Dem Pandemie-Plan zufolge sollen die Landesregierungen für 20 Prozent der Bevölkerung die Anti-Grippe-Mittel "Tamiflu" und "Relenza" bevorraten. Einige haben wesentlich weniger eingekauft. Wie kommt's?

Die Länder haben sich darauf geeinigt, diese Medikamente für mindestens fünf Prozent ihrer Bevölkerung zur Verfügung zu stellen - die WHO fordert 20 Prozent. Aber die realen Vorsorgungswerte sind sehr unterschiedlich. Nordrhein-Westfalen hat Medikamente für 30 Prozent der Bevölkerung eingelagert, in Sachsen Anhalt sind nur sechs Prozent abgedeckt. Ich finde diese Unterschiede ein Unding, es kann nicht sein, dass die Bevölkerung im Krisenfall von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich geschützt ist. Das darf man so nicht stehen lassen.

Hat das etwas mit den knappen Kassen einzelner Bundesländer zu tun?

Sicher wird das finanzielle Argument in einigen Fällen ausschlaggebend gewesen sein.

Kann der Bund auf diese Landesregierungen Druck ausüben?

Da müssen sie die Gesundheitsministerin fragen. Aber mir bereitet die Situation Sorge. Wir sind jetzt auf der untersten Stufe: Wildvögel sind infiziert. Die zweite Stufe ist, dass Nutztiere infiziert werden und in der dritten Stufe springt das Virus - wenn es eines Tages mutieren sollte - von Mensch zu Mensch. Wir können die Frage, welche Auswirkungen eine solche Seuche in Deutschland hat, aber nicht davon abhängig machen, ob ein Landkreis gut oder schlecht arbeitet. Das ist eine Situation, in der bei mir die Alarmglocken läuten.

Sie verlangen, dass der Bund mehr Kompetenzen bei der Seuchenbekämpfung bekommen müsste. Welche meinen Sie konkret?

Seehofer hat ja seine Vorgängerin Renate Künast heftig dafür kritisiert, dass sie die Bund-Länder-Koordination angeblich nicht hinbekommen hätte. Er hat gesagt, er würde das viel besser machen. Daran wird er sich jetzt messen lassen müssen. Mein Vorschlag ist, die besagte Task-Force einzurichten, um die Notfallpläne zu checken. Eine weitere Möglichkeit wäre, eine Auftragsverwaltung zu installieren. Das würde bedeuten, dass die Länder, wenn eine Tierseuche auftritt, im Auftrage des Bundes handeln. Dann könnte Seehofer auch Weisungen geben. So musste er sich auf Rügen hinstellen und sagen, dass er Gast ist und die Landrätin bitten, seine Hilfe anzunehmen - eine unmögliche Situation.

Was muss sonst noch passieren, um Deutschland gegen Tierseuchen dieser Art zu wappnen?

Es muss einfach jeder wissen, was er zu tun hat. Und man muss auch auf Zack sein. Als 2003 die Geflügelpest in Viersen ausbrach, war ich auf einem Paul McCartney-Konzert und wurde drei Mal rausgerufen. So ist das eben: Man muss dann auch bis nachts um 24 Uhr präsent sein und sofort entscheiden.

Welches Szenario haben Sie für die folgenden vier Wochen vor Augen?

Wie sich so ein Virus entwickelt, ist schwer zu sagen. Der entscheidende Punkt ist, dass massive Fehler gemacht worden sind und sich das Virus weiter ausbreiten konnte. Die Situation ist deswegen bedrohlicher geworden für die Geflügelbestände.

Gibt es schon Hinweise darauf, dass die Käufer bei Hähnchenfleisch zurückhaltender als vorher sind?

Ja, die gibt es.

Essen Sie selbst noch Hähnchen?

[lacht] Ich bin Vegetarierin. Als Landesministerin habe ich zwar auch Fleisch gegessen, von Berufs wegen. Aber zuhause essen wir seit 25 Jahren kein Fleisch.

Das Interview führte Lutz Kinkel