Eines der angenehmsten, aber auch gemeinsten Dinge, die mir als DDR-Mensch mit dem Beitritt zur Bundesrepublik übereignet wurden, war die Attitüde, mit der ich fortan die restliche Welt betrachten durfte. Wir mochten uns zweitklassig gegenüber den Altbundesbürgern fühlen und in einer ABM-Brigade arbeiten: Aber hey, mit unserem grünen Bundesbürgerpass lebten wir fortan ganz offiziell im Wirtschaftswunderland und konnten am Balaton den arroganten Ungarn zeigen, was eine Westmark ist.
Selbst dem einstigen NSW, dem nichtsozialistischen Währungsgebiet, durften wir uns überlegen fühlen. Zum Beispiel Italien. Das war zwar überaus schön, aber südlich von Mailand eher arm und vermüllt, von der Mafia ganz zu schweigen. Und die Politik? Oje.
Anfang der 1990er-Jahre brach das nekrotische Parteiensystem zusammen, und die Regierungen in Rom begannen mit den Jahreszeiten zu wechseln. Ein korrupter Medienunternehmer spielte den Ministerpräsidenten, die Extremisten der Lega Nord stürmten ins Parlament und sogenannte Expertenkabinette wechselten sich ab.
Italienische Verhältnisse halt.
"Nie wieder" und "Staatsräson"
Wir hingegen wähnten uns als Hort des freiheitsinduzierten Wohlstands. Wir waren Exportweltmeister, dank des billigen Gases und Öls aus den russischen Pipelines sowie des von der USA spendierten Schutzschirms. Ansonsten hatten wir sehr aus unserer prekären Geschichte gelernt, riefen "Nie wieder" und "Staatsräson", aber auch "Wandel durch Handel". Irgendwann würden auch die Chinesen und Russen auf den bundesrepublikanischen Trichter kommen. Allenthalben regierte die CDU mit der FDP, dann die SPD mit den Grünen und dann wieder die CDU mit SPD oder FDP. Stabilität made in Germany.
Diese gesamtdeutsche Perspektive setzte sich auch im Osten der Republik fest. Selbst in den Landstrichen, die deindustrialisiert und teilentvölkert wurden, wollten die Menschen an die schöne neue Zeit glauben. Sie wählten brav CDU, zuweilen sogar mit absoluten Mehrheiten, und manchmal auch die SPD. Allein die zur PDS mutierte SED sorgte da und dort für politische Experimente.
Ganz Naher Osten
stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst
Aber, da war man in Bonn und später Berlin überzeugt: Das würde sich mit dem sogenannten Aufbau Ost auswachsen. Italien war weit.
Tja. Im Jahr 2014 stellte die zur Linken umbenannte PDS in Thüringen erstmals einen Ministerpräsidenten. Das hatte weniger damit zu tun, dass Russland gerade die Krim besetzt hatte und immer mehr Kriegsflüchtlinge kamen, sondern eher mit einer gespaltenen CDU und einer schwächelnden SPD. Außerdem gelangte ein gewisser Björn Höcke nebst der neuen AfD in den Landtag.
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Gebildet wurde eine Dreiparteienkoalition mit einer Stimme Mehrheit, Bodo Ramelow wurde im zweiten Wahlgang knapp zum Regierungschef gewählt. Das Kabinett regierte ruhig, auch dank der Hochkonjunktur und den daraus folgenden Steuermilliarden. Noch floss das russische Gas. Noch liefen die Exporte. Noch schien alles in alter Weltordnung, trotz eines US-Präsidenten Donald Trump.
Dass sich die Tektonik längst verschob, global, aber auch innerhalb von Deutschland, wollten viele nicht wahrhaben. Ich ehrlich gesagt auch nicht, aber ich lebte nun mal in Erfurt und musste live darüber berichten, wie das importierte System erodierte. Die Wahl eines Ministerpräsidenten mithilfe der AfD, Ramelows Minderheitsregierung, die schmerzhaften Verrenkungen der CDU, die in der Bildung einer sogenannten Brombeer-Koalition mit dem linkspopulistischen BSW ohne Mehrheit gipfelten: Für den Rest der Republik waren wir Absurdistan.
Thüringische Verhältnisse halt.
Die deutschen Verhältnisse
Doch inzwischen gibt es auch sächsische Verhältnisse. In Dresden wird eine CDU-SPD-Minderheitsregierung de facto von Linken und Grünen toleriert. Wie zuvor in Erfurt wird der Abgrenzungsbeschluss der Union sehr frei ins Ostdeutsche übersetzt.
Und es gibt brandenburgische Verhältnisse. Die Ein-Stimmen-Mehrheit von SPD und BSW erscheint nach dem Parteiaustritt von vier enttäuschten Sahra-Wagenknecht-Fans akut gefährdet. Vielleicht bildet sich demnächst eine SPD-CDU-Minderheitsregierung, die von den Parteilosen toleriert wird, oder die Renegaten treten gleich in die SPD ein. Oder es kommt ganz anders, wer weiß das schon.
Nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern im September 2026 dürfte es auch dort Na-Sie-wissen-schon-Verhältnisse geben. Wie eben wir Ossis so sind.
Dabei, Überraschung, herrschen doch längst deutsche Verhältnisse. Binnen eines Jahres geschah das: Koalitionsbruch, Minderheitsregierung, Mehrheitsbeschluss dank AfD, Neuwahl des Bundestags, Sperrminorität von AfD und Linken, Rekordschuldenaufnahme vom abgewählten Parlament, gescheiterte Kanzlerwahl, vertagte Richterwahl. Inzwischen herrscht Dauerstreit darüber, was genau im Koalitionsvertrag steht, derweil eine Neuauszählung der Bundestagswahl droht, die die Regierung ihrer knappen Mehrheit berauben könnte.
Ein Bundespräsident will etwas sagen
Das Delegieren der Problemlagen nach Italien, Rumänien oder Ostdeutschland funktioniert also nur noch eingeschränkt, weshalb nun der Bundespräsident ganz plötzlich zur lange vermissten Rhetorik-Tat schritt. Frank-Walter Steinmeier stellte sich am 9. November – also zu jenem Datum, an dem die Deutschen ihre erste Republik ausriefen, später Synagogen abbrannten und noch später die Mauer schliffen – ins Schloss Bellevue und sprach: "Weimar ist gescheitert, als der Reichstag keine verlässlichen Mehrheiten mehr zustande brachte."
Er halte, sagte der Präsident, zwar nichts von Untergangsszenarien, aber dann implizierte er, dass die deutsche Demokratie zurzeit vor einer ähnlichen Bedrohung wie Anfang der 1930er-Jahre steht. Deshalb müsse sie sich diesmal besser wehren, und sei es mit einem Parteiverbot.
Da sind sie also wieder, die Weimarer Verhältnisse. Bonn war nicht Weimar, aber Berlin ist es dann schon, zumindest potenziell? Und die AfD, die Steinmeier vorsorglich nicht namentlich erwähnte, ist die neue, in blau eingefärbte NSDAP?
Auch die NSDAP wurde verboten
Ach ne. Bei allem Verständnis dafür, dass der Bundespräsident auch endlich seine große Rede halten wollte, und mit dem Zugeständnis, dass er einiges Kluges sagte: Historische Analogien, und seien sie staatstragend geraunt, helfen niemandem.
Ja, der Aufstieg der Nazis und die Zerschlagung der ersten deutschen Demokratie bieten einige alarmierende Parallelen zum Heute. Ich selbst, sorry, habe am Beispiel Thüringens und des Rechtsextremisten Höcke sehr viel dazu geschrieben und meine dies ausdrücklich immer noch so.
Aber die Unterschiede sollten ebenso deutlich benannt werden, zumal, auch dies ist eine geschichtliche Reverenz, die NSDAP verboten wurde – bevor sie, wo sonst, auf einem Reichsparteitag in Weimar ihre triumphale Wiederauferstehung feiern konnte. Was für eine Lehre ließe sich denn bitte daraus ziehen, sehr verehrter Herr Bundespräsident?
Es ist leider kompliziert. So sehr sich die seit Platon beschriebenen Mechanismen ähneln mögen: Eine De-facto-Gleichsetzung der NSDAP mit der AfD, und sei sie indirekt, ist ahistorisch, unterkomplex und im Ergebnis kontraproduktiv. Dies lässt sich, nur unter anderem, an den gegenwärtigen italienischen Verhältnissen betrachten.