Erst herrschte Stille im Saal des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, ungläubige Stille. Doch dann machte sich Entsetzen breit. "Das war mehr als ein Schlag ins Gesicht", sagt der frühere Landbesitzer Dieter Lichtenstein aus Mecklenburg-Vorpommern sichtlich geschockt. Mit einem Schlag zerstörte der Schweizer Richter Luzius Wildhaber die letzte Hoffnung der rund 60 früheren DDR-Bürger, die voller Optimismus nach Straßburg gereist waren. Und auch in Deutschland führte das Urteil zu Wut und Enttäuschung. Allerdings gab es auch Erleichterung - seitens der Ost- Länder und des Bundes. 13 Jahre nach der entschädigungslosen Enteignung von rund 70.000 Erben ehemaliger DDR-Neubauern durch die Bundesrepublik wollten die Kläger endlich Recht bekommen - und ihr "gestohlenes" Land zurück.
"Ich weiß nicht, woran ich noch glauben kann"
Daraus wird nun nichts, wie Günter Gielow aus Neu Roggentin bei Rostock schlicht feststellt, um dann seiner Enttäuschung Luft zu machen: "Hier lag absolut ein Rechtsbruch vor." Die Niedergeschlagenheit nach dem Urteil ist deutlich spürbar. "Ich weiß nicht, woran ich noch glauben kann", sagt Otto Körnig, der jahrelang um neun Hektar Land gekämpft hatte, auf dem Rückweg von Straßburg nach Dessau. "Ich bin froh, dass meine Großmutter das nicht mehr erleben muss."
Das Recht auf Enteignung
Die Enteignung ist der Entzug des Eigentums an einer unbeweglichen oder beweglichen Sache. In Deutschland ist sie gemäß Art. 14 Abs. 3 GG nur rechtmäßig, wenn sie dem Wohl der Allgemeinheit dient und entweder unmittelbar durch ein Gesetz oder auf gesetzlicher Grundlage durch einen Verwaltungsakt erfolgt. So konnten Bundesländer und Gemeinden in den Neunziger Jahren Grundstücke von Ostdeutschen mit der Begründung enteignen, deren Flächen würden für den Bau wichtiger Infrastruktureinrichtungen (Straßen, Eisenbahnlinien, Autobahnen, etc.) gebraucht.
Die gemeinsame Geschichte der Kläger begann eigentlich schon 1945: Mit der Bodenreform in der sowjetisch besetzten Zone kam "Junkerland in Bauernhand". Rund drei Millionen Hektar Ackerland der Großgrundbesitzer wurde enteignet und an so genannte Neubauern verteilt.
Vom Westen übervorteilt fühlen sich nun die, die den Erben der Neubauern 1990 ihr Land zugesagt hatten. Sichtlich enttäuscht zollte in Berlin der damalige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in Berlin den Klägern seinen Respekt. Sein Gesetz, das die Erben zu Volleigentümern machte, war zwei Jahre später Makulatur. Straßburg bestätigte nun, dass die Regierung Kohl das Gesetz mit Recht gekippt habe. "Das ist ein eigenartiger Umgang mit der Geschichte", sagt Modrow. Der Mann, der in der Wendezeit leidenschaftlich "Für Deutschland einig Vaterland" stritt, konstatiert nun: "Wir sind eigentlich in zwei Teilgesellschaften".
"Damit muss ich erst einmal fertig werden"
Die Politiker aus Bund und Ländern gehen nun beruhigt zur Tagesordnung über. Ihnen erspart das Urteil Entschädigungen in Milliardenhöhe oder die Rückgabe tausender von Hektar Land. Doch bei den Betroffenen sitzt der Schock tief. "Damit muss ich erst einmal fertig werden", sagt Erika Ritzmann. Dass auch sie ihre geerbten elf Hektar Ackerland, Wald und Wiesen bei Neubrandenburg (Mecklenburg- Vorpommern) nicht zurückbekommt, erfuhr die 63 Jahre alte Frau erst, als ein Radiosender sie nach dem Urteil für ein Interview anrief. "Da konnte ich erst gar nichts sagen", erzählt sie in Berlin, den Blick ins Leere gerichtet. "Es waren sieben schwere Jahre, die viel an Geduld und Zeit und Nerven gekostet haben", sagt die Frau. Dann die Nachricht aus Straßburg. "Das war das blanke Entsetzen."

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Verärgert sind die Betroffenen auch, weil sie sich als doppelte Verlierer fühlen. Das Land, auf dem sie einst lebten oder arbeiteten, wurde ihnen genommen. Und nun bleiben sie auch noch auf den Gerichtskosten sitzen. "Ich fühle mich betrogen", seufzt Rosemarie Müller aus Frankfurt am Main. Sie prozessierte in Naumburg und Magdeburg und zog bis vor das Bundesverfassungsgericht, um sich ihre acht Hektar Land in Egeln (Sachsen-Anhalt) zurück zu erstreiten. Erfolglos. Zerstört sei aber auch die Hoffnung ihres Sohnes, das Land bearbeiten zu können und so aus der Arbeitslosigkeit heraus zu kommen. "Das Land war seine Existenz."