FREIFLUG-AFFÄRE Zerknirscht und ratlos

Der zurückgetretene Berliner Wirtschaftssenator Gregor Gysi könnte sich »schwarzärgern« über sein eigenes Verhalten. Gleichzeitig weist er Vorwürfe über angebliche Stasi-Verstrickungen entschieden zurück.

Weder Amtsmüdigkeit noch angebliche Stasi-Verstrickungen sollen für den Rücktritt des PDS-Stars Gregor Gysi verantwortlich sein. Am Freitag wischte der zurückgetretene Berliner Wirtschaftssenator diese Spekulationen als »dummes Zeug« vom Tisch. Allein seine privaten Freiflüge, bezahlt mit dienstlich erworbenen Bonusmeilen, seien der Grund, stellte der einstige PDS-Vorzeigepolitiker auf seiner vorerst letzten Pressekonferenz klar.

»Wie konnte mir das nur passieren«

»Ich komme mit meinem eigenen Fehler nicht klar und krieg ihn nicht gerechtfertigt, nicht vor mir und damit auch nicht vor anderen«, begründete er seinen Schritt zerknirscht. Von Schwarzärgern und dem Verlust von politischem Instinkt war die Rede. »Wie konnte mir das nur passieren«, habe er sich immer wieder gefragt. Er sei zornig auf sich selbst und habe drei Tage und Nächte über seine Entscheidung gegrübelt. Als am Mittwoch die PDS-Führung ihr prominentestes Mitglied noch umzustimmen versuchte, war die Entscheidung längst gefallen. Am Abend trat er als Berliner Wirtschaftssenator und Bürgermeister zurück. Gysi war über seine privaten Freiflüge gestolpert.

PDS-Spitze versteht Rücktritt nicht

Vertraute in der Partei nehmen Gysi seine persönliche Erklärung ab. Schon in der Vergangenheit hatte er Befürchtungen geäußert, die Politik mache ihn korrumpierbar, hieß es. Sein Rücktritt wird von der PDS-Spitze respektiert, verstanden aber nicht.

Rot-Rot verliert den Vermittler

Auch für die Akzeptanz von Rot-Rot ist der Verlust des PDS-Aushängeschildes eine Katastrophe. Er war der Mittler zwischen den Fraktionen, war bei Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften gleichermaßen akzeptiert. Nur ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt des SPD/PDS-Bündnisses ist die Koalition in eine existenzielle Krise geschlittert. Die PDS-Führung überspielt ihre Ratlosigkeit mit Aktionismus.

Gysi sieht keine Auswirkungen für Bundestagswahlkampf

Auswirkungen für den Bundestagswahlkampf seiner Partei will Gysi durch seinen plötzlichen Rückzug nicht sehen. Für den Widereinzug der PDS in das Parlament gibt er sich optimistisch. Nach Einschätzung von Wahlforschern kann Gysis Ausscheiden dagegen die Partei die entscheidenden Punkte kosten. In aktuellen Umfragen pendelt die PDS zwischen fünf und sechs Prozent der Wählerstimmen.

»Ich bleibe ein politischer Mensch«

Ein Comeback in der Politik schließt der 54-Jährige für sich erst einmal aus, um dann gleich darauf zu spekulieren: Wer weiß schon was in vier, fünf Jahren passiert. »Ich bin und bleibe ein politischer Mensch.« Im Wahlkampf seiner Partei will er aber dabei sein, allerdings nur in »angemessener Weise«. Der Polit-Jungpensionär Gysi will jetzt wieder als Anwalt arbeiten.

Erst einmal sacken lassen

Mit einer ausführlichen Erklärung hatte Gysi am Mittwoch seinen Rücktritt begründet, danach war er von der öffentlichen Bühne verschwunden: keine Interviews, Statements oder Pressekonferenzen. »Ich musste die Entscheidung auch erst einmal sacken lassen.«

Journalisten belagerten Haus

Kamerateams und Fotografen belagerten zwei Tage sein Grundstück im Berliner Stadtbezirk Pankow - auch für den die Öffentlichkeit liebenden Spitzenpolitiker ein unzumutbarer Zustand. Reporter hätten pausenlos bei ihm geklingelt und die Grundstücke der Nachbarn betreten, um Fotos von ihm und seiner Familie zu machen, warf Gysi den Medien vor. »Wo leben wir denn«, fragt er die versammelten Journalisten. »Ich weiß nicht, auf welches Niveau wir noch runterwollen.«

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Susann Kreutzmann