Julia Klöckner schleppt sich ins Präsidentenamt, Gregor Gysi vertändelt die Rede seines Lebens – und Alice Weidel führt plötzlich die Opposition an. Die Lehren des Tages.
Der Tag endete mit einer Routine: Drei Mal ließen die Parteien der Mitte den AfD-Kandidaten für den Posten des Bundestags-Vizepräsidenten durchfallen. So fängt der neue Bundestag an wie der alte: Die Brandmauer steht, die extreme Rechte bleibt isoliert. Ob das eine kluge Strategie ist im Umgang mit der AfD, wird sich noch zeigen. Mit dieser Frage wird sich auch die neue Parlamentspräsidentin befassen müssen, Julia Klöckner von der CDU.
Was bei der konstituierenden Sitzung des 21. Bundestags sonst noch geschah, lesen Sie unten in unserem Liveblog. Die wichtigsten Lehren des Tages finden Sie hier:
Alice Weidel ist jetzt wirklich neue Oppositionsführerin
...und von rechts drückt die blaue Wand! Mit der Konstituierung des neuen Bundestags wird die bedeutendste Folge des Wahlergebnisses vom 23. Februar sichtbar: Jeder vierte Abgeordnete im Deutschen Bundestag kommt von der AfD. Ein Symbol des Wandels: Nazi-Slogans, NS-Verharmlosung und Ausländerfeindlichkeit sind nicht nur salonfähig, wie es immer so schön heißt, sondern vor allem das: politikfähig. Immer mehr Deutsche halten die Lehren aus dem Faschismus offenbar für Kindermärchen.
Wenn es zur neuen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD kommen sollte, wird die AfD die stärkste Oppositionspartei sein. Das heißt, sie hat das Recht, als erste einen Redner oder eine Rednerin auf die Bundesregierung antworten zu lassen. Alice Weidel wird also die Rolle einnehmen, die Friedrich Merz in der vergangenen Legislaturperiode zukam. Dieser Machtgewinn ist enorm.
Die AfD wird derweil alles tun, um die anderen Parteien, wie es Alexander Gauland einmal sagte, zu jagen. Dazu wird sie die demokratischen Parteien in jede erdenkliche Falle locken. So geht das Playbook der Zerstörung des Parlaments von innen. Die AfD beherrscht dieses Spiel bestens. An diesem Dienstag etwa trat sie drei Mal erfolglos mit demselben Kandidaten an. Nur um sich als Outlaw zu inszenieren.
Doch mit Geschäftsordnungsstrategien ist diese Partei ohnehin nicht kleinzukriegen. In den kommenden vier Jahren wird es deshalb eine kraftvolle politische Antwort auf die angebliche Alternative brauchen. Das ist jetzt der Job von Friedrich Merz.
Julia Klöckners Suche nach der Mitte
Die erste Sitzung des neuen Bundestags hat deutlich gemacht, was für ein Kraftakt es sein wird, in der kommenden Legislaturperiode einen Konsens zu finden. Nicht nur bei Grundgesetzänderungen – für die Union, SPD und Grüne künftig auch auf die Stimmen der Linken oder der AfD angewiesen sind – könnte es schwierig werden. Offenbar können sich die Parteien der Mitte nicht einmal auf eine Bundestagspräsidentin wirklich einigen.
Zwar hat die neue Präsidentin Julia Klöckner (CDU) bei der Wahl eine Mehrheit erreicht – ein überragendes Ergebnis war es jedoch nicht. 204 Abgeordnete stimmten mit Nein, 31 enthielten sich. Wenn alle 152 AfD-Abgeordneten mit Nein gestimmt haben, fehlten ihr mutmaßlich 96 Stimmen aus den Reihen von Union, SPD, Grünen und Linken. Wo genau sie herkamen, ist nicht klar. Es war eine geheime Wahl.
Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Vor der Sitzung hatte Klöckner sich wegen ihres Umgangs mit der AfD-Fraktion im Bundestag bei den Grünen unbeliebt gemacht. Die Kandidatin der Union hatte angekündigt, sich bei der AfD-Fraktion vorzustellen. Ein Besuch bei der AfD sei ein „falsches Signal der Normalisierung“, hieß es daraufhin bei den Grünen. Der Besuch fand schließlich aus Termingründen nicht statt.
Mit der Eröffnung des 21. Deutschen Bundestags wird klar: Eine polarisierte Gesellschaft spiegelt sich auch im Parlament wider. Für eine faire Streitkultur zu sorgen, wird nicht leicht für die neue Parlamentspräsidentin. Das schwache Wahlergebnis für sie ist ein Vorgeschmack auf die Größe ihrer Aufgabe.
Gregor Gysis verpatzte Chance
Es war eine einmalige Gelegenheit für Gregor Gysi. Als Alterspräsident durfte er zu Beginn der konstituierenden Sitzung des Bundestags eine Rede halten – und zwar so lange, wie er wollte. Er hatte die Chance, der neuen Legislaturperiode seinen Stempel aufzudrücken. Gelungen ist ihm das nicht.
Stattdessen wirkte die Rede wie eine Aneinanderreihung von Themen, zu denen Gysi seine Meinung schon immer mal loswerden wollte. Statt sich auf wenige wichtige Punkte zu konzentrieren, sprang er von Thema zu Thema und erzählte vieles aus dem Parteiprogramm der Linken, aber leider wenig Neues.
Er kritisierte die Verwendung von Begriffen wie „Kriegstreiber“ oder „Putinversteher“, warb für die Zwei-Staaten-Lösung im Gaza-Konflikt, sprach über historisch heikle Straßennamen, die teils unverständliche Sprache von Politikern und schlug schließlich zwei neue Feiertage vor. Ein roter Faden? Fehlanzeige. Dazu verhaspelte sich Gysi andauernd, wirkte schlecht vorbereitet.
Nach kurzer Zeit war die Aufmerksamkeit im Saal weg. Einige Abgeordnete unterhielten sich, tippten auf ihren Handys, andere verließen den Saal, einer las demonstrativ (und als politische Anklage an den Ex-SEDler Gysi gemeint) in einem Buch. Nur die Linke klatschte brav.
Fest steht: Die Chance, als Alterspräsident eine historische Rede zu halten, hat Gysi mit diesem Auftritt deutlich verpasst. Ein verschenkter Tag für die Linke.
Die Momente des Tages können Sie hier im Blog nachlesen:
Wichtige Updates
Nico Fried
"Vielen Dank, Olaf"
Jetzt spricht Steinmeier über Anspruch und Scheitern der Ampel-Koalition. SPD, Grüne und FDP seien angetreten als eine Koalition, die soziale, ökologische und liberale Perspektiven miteinander vereinen wollte. "Und das war alle Anstrengung wert", sagt Steinmeier. "Ich weiß, dass gerade Sie, Herr Bundeskanzler, sehr viel Energie und Geduld eingesetzt haben, damit dieser Ausgleich gelingt."
Das Ende der Ampel fasst der Bundespräsident so zusammen: "Doch die unterschiedlichen Auffassungen, wie beides vereinbar ist, die Schuldengrenze zu wahren und gleichzeitig angemessen auf die Krisen zu reagieren, sie haben am Ende zu unüberbrückbaren Differenzen in Ihrer Regierung geführt."
Das war's dann fast. Um 17.57 Uhr überreicht Steinmeier Scholz die Urkunde und sagt zum Händedruck: "Vielen Dank, Olaf." Als letzter Minister erhält Wolfgang Schmidt, Chef des Kanzleramtes und Minister für besondere Aufgaben, seine Urkunde. Noch ein Foto. Und tschüss.
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Nico Fried
Scholz wird entlassen Soeben hat im Schloss Bellevue die Entlassung der Bundesregierung begonnen. Bundeskanzler Olaf Scholz und die nach dem Rauswurf der FDP verbliebenen Minister sind angetreten, um ihre Entlassungsurkunden zu erhalten. Allerdings bleiben sie geschäftsführend im Amt, bis der Bundestag einen neuen Kanzler gewählt hat.
Die Weltlage habe sich in den vergangenen drei Jahren in einer Geschwindigkeit verändert, "wie ich es in meiner politischen Erinnerung nicht erlebt habe", sagt Steinmeier. Die Verantwortung, die im Angesicht des ersten Eroberungskrieges auf europäischem Boden seit 80 Jahren auch auf der deutschen Regierung laste, "war und ist groß". Der Bundeskanzler, die Ministerinnen und Minister dieser Regierung "haben Sie gemeinsam von Tag eins an angenommen", würdigt der Bundespräsident.
Steinmeier erinnert an das erste Sondervermögen für die Bundeswehr, an die Bemühungen um die Energiesicherung und an die vielen ukrainischen Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind und untergebracht werden mussten, auch wenn es das Land an seine Grenzen gebracht habe. "Diese Leistung Ihrer Bundesregierung verdient Respekt."
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Julius Betschka
Schluss, Aus und vorbei!
Nach der Hymne ist vor der Hausparty! "Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung", sagt Julia Klöckner, die neue Bundestagspräsidentin, zum Ende der Sitzung. Und dann lädt sie die Abgeordneten noch zu einem Empfang auf der Fraktionsebene in der dritten Etage des Reichstagsgebäudes ein. Hoffentlich benehmen sich da alle.
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Clara Suchy
Als letzter Punkt auf der Tagesordnung wird die Nationalhymne gesungen.
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Julius Betschka
BundestagspräsidentinKlöckner reagiert scharf auf Zwischenruf der AfD
„Ich möchte sie davon in Kenntnis setzen: Das sind hier demokratische Vorgänge einer Mehrheit, hier mauschelt kein Kartell im Bundestag.“
Julia Klöckner
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Julius Betschka
AfD-Mann Gerold Otten fällt auch im dritten Wahlgang durch
Der Kandidat der AfD für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten ist auch im dritten Wahlgang deutlich gescheitert. 184 Abgeordnete haben mit Ja gestimmt. Gerold Otten ist damit auch im dritten Wahlgang nicht gewählt. Ein weiterer Wahlgang findet gemäß der Geschäftsordnung heute nicht statt.
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Julius Betschka
Jetzt wird zum dritten Mal ausgezählt!
Um 16.50 Uhr unterbricht Bundestagspräsidentin Julia Klöckner die Sitzung. Alle konnten nun ihre Stimmen für den dritten Wahlgang für die Wahl von Gerold Otten zum Bundestagsvizepräsidenten abgeben. In zwanzig Minuten wird das Ergebnis erwartet.
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Florian Schillat
Und auch im zweiten Wahlgang fällt AfD-Mann Gerold Otten durch, wenig überraschend. Schon eher, dass er im zweiten Anlauf ein paar Abgeordnete mehr hinter sich versammeln konnte: Diesmal sind es 190 Jastimmen – im ersten Durchlauf waren es fünf weniger. Die große Mehrheit (401 Neinstimmen) votierte gegen Otten.
Ob es wohl in einem dritten, letzten Durchgang erneut mehr würden? Will die AfD natürlich herausfinden – und den neuen Bundestag schon mal ein bisschen ärgern. Es wird wieder abgestimmt. Diesmal würde es für Otten reichen, wenn er schlicht mehr Ja- als Neinstimmen bekäme, er müsste also nicht mehr die Mehrheit des Hauses (von 316 Stimmen) hinter sich vereinen.
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Julius Betschka
Zweiter Wahlgang für den AfD-Kandidaten Gerold Otten läuft
Die Sitzung ist jetzt unterbrochen. Alle Abgeordneten haben ihre Stimmen abgegeben. Das Ergebnis wird in etwa einer halben Stunde erwartet. Letzter Tagesordnungspunkt heute übrigens: das gemeinsame Singen der Nationalhymne.
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Julius Betschka
Macht und Machtverfall
Immer wieder sieht man Olaf Scholz heute in den TV-Bildern durch den Bundestag laufen, die Kollegen vor Ort berichten, wie er manchmal fast allein durch die Reihen geht. Ja, er ist noch wenige Stunden offiziell im Amt. Erst am Nachmittag wird ihn der Bundespräsident entlassen (ab dann führt er das Amt nur noch kommissarisch weiter). Und doch zeigt sich sein Machtverfall schon jetzt: Bis vor Kurzem bildeten sich sofort Trauben von Abgeordneten um den Ort, an dem Scholz, der Bundeskanzler, stand. Doch diese Zeit läuft ab. So sieht Machtverfall ganz bildlich aus. Wie er sich wohl anfühlt?
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Julius Betschka
Die AfD geht in einen zweiten Wahlgang
Die AfD will noch einen Wahlgang mit ihrem Vizepräsidenten-Kandidaten durchführen. Gerold Otten wird ein weiteres Mal ins Rennen geschickt. Julia Klöckner ordnet den nächsten Wahlgang an. Rückblick: 2021 hatte sich die Fraktion nach einer Sitzungsunterbrechung und kurzer Beratung gegen einen sofortigen zweiten Wahlgang entschieden. Auch Ottens zweite Kandidatur heute dürfte aussichtslos sein. Interessant wird aber, ob er mehr Stimmen erhält.
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Julius Betschka
33 Abgeordnete aus anderen Fraktionen stimmen für AfD-Kandidaten
Der AfD-Kandidat Gerold Otten wurde wie erwartet nicht gewählt. Doch 33 Abgeordnete aus anderen Fraktionen haben mindestens für ihn gestimmt. Die AfD hat nur 152 Stimmen, Otten erhielt aber 185. Die meisten (vielleicht alle) kommen mutmaßlich aus der Unionsfraktion.
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Julius Betschka
Das sind die Ergebnisse der Wahl der fünf Bundestagsvizepräsidenten:
AfD: Gerold Otten, nicht gewählt, 185 Jastimmen
SPD: Josephine Ortleb, gewählt, 434 Jastimmen
Grüne: Omid Nouripour, gewählt, 432 Jastimmen
Linke: Bodo Ramelow, gewählt, 318 Jastimmen
CSU: Andrea Lindholz, gewählt, 425 Jastimmen
316 Jastimmen von 630 waren jeweils für eine Mehrheit nötig. Eine Stunde hat die Auszählung gedauert. Jetzt ist die Frage, ob es weitere Wahlgänge gibt.
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Julius Betschka
Rrrrrrrrrrring!
Im Bundestag klingeln jetzt endlich die Sirenen. Das heißt: Die Abgeordneten werden zurück ins Plenum gebeten. Gleich wird also das Ergebnis verkündet...
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Julius Betschka
Bundestagsverwaltung vergisst sieben Stühle der AfD
Kuriose Geschichte:152 Abgeordnete hat die neue AfD-Fraktion. Oder? Die Bundestagsverwaltung vergaß offenbar im Plenarsaal bei der AfD sieben Sitzplätze. Das bestätigte die Verwaltung auf Anfrage der Kollegen des "Tagesspiegels". Sieben Abgeordnete waren am Morgen ohne Platz.
Womöglich passierte der Fehler in der Eile der vergangenen Tage: Noch letzte Woche hatte das alte Parlament im Plenarsaal getagt, natürlich mit alter Sitzverteilung. Nun musste innerhalb von nur einer Woche der ganze Saal umgebaut werden. Normalerweise ist dafür deutlich länger Zeit. In der Eile scheint niemandem der Fehler aufgefallen zu sein. "Sie konnten jedoch zu Beginn der Sitzung durch Veranstaltungsstühle ersetzt werden“, schreibt der Bundestag. Früher hätte man gesagt: Die haben den Klappstuhl ausgegraben.