Die AfD neigt bekanntlich zur gezielten Übertreibung, auch was die eigene Bedeutung angeht. "Deutschlands stärkste Kraft" – so steht es stolz auf den Pulten, hinter denen die Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla ihre Statements im Bundestag abgeben.
Ein Blick ins Plenum genügt, um diese Behauptung zu widerlegen. Natürlich meint die Partei etwas anderes: In Umfragen steht sie gerade auf Platz 1.
Dies gilt auch für die aktuelle Forsa-Erhebung im Auftrag von stern und RTL/ntv. Hier erreicht die AfD mit 27 Prozent den höchsten je gemessenen Wert und steht klar vor der Union.
Neuer Tiefstwert für Friedrich Merz
Der Rekord steht offenkundig im Zusammenhang mit einer anderen Zahl: 70 Prozent der Befragten sind mit CDU-Kanzler Friedrich Merz unzufrieden. So schlecht dachten die Deutschen noch nie über ihn.
Wie konnte das passieren?
Da ist erst einmal die allgemein missliche Lage. Für die Krisen und Kriege dieser Welt ist die aktuelle Regierung ebenso eingeschränkt verantwortlich wie für das seit Jahren schwächelnde Wirtschaftswachstum, die strukturellen Defizite der Sozialsysteme und den dahintersteckenden demografischen Wandel.
Doch dies erklärt nur den stabilen Sockel der Unzufriedenheit, nicht den Trend. Und an ihm ist die Koalition ausdrücklich selbst schuld. Denn sie hat an zu vielen Stellen dort weitergemacht, wo die Ampel aufhörte: mit schlechtem Handwerk, öffentlichem Streit und mieser Kommunikation.
Ein aktuelles Beispiel: Nachdem Union und SPD mit einer abgewählten Mehrheit – und dank eines Wortbruchs von Merz – die höchste Verschuldung aller Zeiten durchsetzten, fehlt nun das Geld für genehmigungsreife Straßenbauprojekte.

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So behauptet es jedenfalls Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder, der den Haushaltsentwurf 2026, in dem das angebliche Defizit teilweise steht, im Kabinett zuvor mit beschlossen hat. (Dass derselbe Verkehrsminister nicht in der Lage ist, die Führung der Bahn unfallfrei neu zu ordnen, sei nur nebenbei erwähnt.)
Im Ergebnis zoffte sich Schnieder mit SPD-Finanzminister Lars Klingbeil und revoltierten mehrere Unionsabgeordnete, weshalb Merz mal wieder selbst eingreifen musste. Das Ergebnis ist erneut das Bild einer zerstrittenen Koalition, die es nicht einmal schafft, das von den Banken geholte Geld auf die Straße zu bringen.
Vertrauen wurde enttäuscht
Es ist nur eine Episode, aber sie fügt sich in ein Muster, das mit der fast verunglückten Kanzlerwahl begann. Die abgesagte Richterwahl, der sommerliche Streit um Waffenlieferungen an Israel, das ständige Gerede von einem "Herbst der Reformen", der nicht kommen wird: Das alles hat Vertrauen gekostet.
Vertrauen darauf, dass sich die Beteiligten des Ernstes der Lage bewusst sind. Vertrauen darauf, dass es diese Koalition besser machen wird. Vertrauen darauf, dass es dieser Kanzler kann.
Die unnötigen Fehler überdecken, was entschieden und erarbeitet oder zumindest auf den Weg gebracht wurde, ob nun bei den Investitionen, in der Migration oder in den internationalen Beziehungen. Denn am Ende ist Politik, zumal in einer Demokratie, auch ein gnadenloses Stimmungsgeschäft. Dies gilt insbesondere für diese unruhigen Zeiten, in denen von jeher populistische und extreme Parteien Zulauf erhalten.
Merz weiß das alles natürlich. Im April, da war er noch nicht Kanzler, sagte er: "Wichtig ist, dass wir bis zum Sommer die Stimmung im Land verbessern. Die Bevölkerung muss merken, dass es einen Unterschied macht, wenn es eine neue Regierung gibt."
Das hat offenkundig nicht geklappt. Auch die Wirtschaft, die nicht minder von Stimmungen abhängt, bleibt verunsichert. Die Hoffnungen auf Wachstum sind hinweg.
Echte Reformen wagen
Was tun? Es gibt keine einfachen Lösungen, die lügen bloß die AfD herbei. Es gibt nur pragmatische Politik, geeintes Handeln, solides Handwerk und eine saubere Kommunikation.
Und es gibt den Mut zu echten Reformen. Die SPD muss sich beim Bürgergeld oder der Rente so bewegen, wie sie es bei der Migration getan hat. Gleichzeitig sollte es die Union schaffen, über Steuergerechtigkeit zu reden.
Denn auch hier sind die Zahlen von Forsa klar. Sogar eine große Mehrheit der Anhänger von CDU und CSU befürwortet eine höhere Erbschaftsteuer.
Allein mit dem unbedingten Willen, wirklich etwas gemeinsam zu wagen, außer nur Schulden aufzunehmen, wird es diese Koalition durch den Herbst des Misstrauens schaffen, ohne im Winter der Enttäuschung zu landen. Denn falls sie nicht bis zum Frühling die Stimmung dreht, wird die AfD bei den Landtagswahlen im März im Westen reüssieren – und könnte im September im Osten sogar absolute Mehrheiten holen.
Dann wäre sie tatsächlich Deutschlands stärkste Kraft.