Gesundheitspolitik Die Gesundheits-Koalition

Kopfpauschale oder Bürgerversicherung? Im stern einigen sich ihre Erfinder, Bert Rürup und Karl Lauterbach, auf einen Kompromiss.

Sie haben in einer gemeinsamen Kommission einen großen Reformentwurf für die Sozialsysteme erarbeitet. Was ist Ihr Urteil, wenn Sie jetzt die Vereinbarungen der großen Koalition betrachten? Ist die Politik beratungs- und lernfähig?

Rürup: Bei der Rente ist uns die Politik gefolgt. Wenn jetzt noch das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht wird, sind die Probleme weitgehend gelöst. Langfristig wird die gesetzliche Rente zu einer Basissicherung umgebaut. Sie wird mehr als eine Grundrente und für die meisten Deutschen immer noch das wichtigste Einkommen im Alter sein. Aber sie muss dringend ergänzt werden, damit die Altersvorsorge den Lebensstandard sichert.

Wie lange trägt das?

Rürup:

Unter demografischen Gesichtspunkten ist so gut wie alles getan worden. Aber die Erosion der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hält an. In diesem Jahr verlieren wir 395 000 dieser Beschäftigungsverhältnisse, 2006 werden es fast 160 000 sein. Deshalb wird mittelfristig an einer stärkeren steuerlichen Finanzierung versicherungsfremder Leistungen kein Weg vorbeiführen. Warum bringt die Koalition jetzt nicht den Mut auf, die Privatvorsorge vorzuschreiben?

Lauterbach:

Weil das Geld zur staatlichen Förderung fehlt. Wir müssen aber zu einer obligatorischen Riester-Rente kommen, sonst ist Altersarmut unvermeidlich. Denn derzeit hilft sie den Falschen, denjenigen, für die sie gar nicht gedacht war. Nur jeder Fünfte hat eine Riester-Rente. Die breite Bevölkerung nicht.

Rürup:

Ich wäre vorsichtig, bereits jetzt nach gesetzlichem Zwang zu rufen. Und wenn die Riester-Rente mit vier Prozent Beitrag obligatorisch würde, wäre das für Geringverdiener äußerst schwierig.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Lauterbach:

Ich spreche von einer obligatorischen Riester-Rente, aber nicht von vier Prozent Beitrag. Den Steuerzuschuss sollte es nur für Geringverdiener geben.

Zurück zu den Koalitionsvereinbarungen. Sind Sie zufrieden oder besorgt?

Lauterbach: Die große Koalition ist ohne Alternative, aber in wichtigen Fragen ist die politische Schnittmenge nicht allzu groß. Die Verlagerung der Kompetenzen für die Bildungspolitik, insbesondere die Hochschulpolitik, in die Länder ist für die Forschung eine Tragödie. Von den Reformen bei der Gesundheit kann man bisher nur enttäuscht sein.
Rürup: Ich sehe zu wenig Gestaltung, kein zentrales zukunftsweisendes Projekt. Wenn eine große Koalition für die Lösung eines Problems prädestiniert ist, dann ist es die Lähmung der Politik durch den Föderalismus. Da muss nachgelegt werden. Wenn sich die Reform darauf beschränken würde, was vereinbart ist, dann wäre man zwar in die richtige Richtung, aber doch zu kurz gesprungen. Wir brauchen einen Länderfinanzausgleich, der weniger negative Effekte hat, und mehr finanzielle Autonomie von Bund und Ländern. Und wenn die Voraussetzungen für eine betriebsnahe Lohnfindung geschaffen werden, gehört auch eine Erfolgsbeteiligung der Arbeitnehmer auf die Tagesordnung.
Lauterbach: Zum Teil ist nicht einmal der kleinste gemeinsame Nenner erreicht worden, man blockiert sich. Etwa in der Arbeitsmarktpolitik. Wir bräuchten eine weitere Arbeitsmarktreform. Allein über die Senkung der Lohnnebenkosten Jobs schaffen zu wollen reicht nicht. Man muss direkt auf den Arbeitsmarkt einwirken, durch ein gezieltes Kombilohn-System, das die Abgaben für Langzeitarbeitslose senkt oder ihre Beschäftigung durch Steueranreize fördert.

Warum kommt das nicht zustande?

Lauterbach:

Erstens fehlt das Geld, zweitens gibt es ideologische Vorbehalte.

Rürup:

Ich glaube, es ist noch zu früh, nach einer neuen großen Arbeitsmarktreform zu rufen. Die Hartz-Reform ist weitreichender, als manche glauben, und die Umsetzung dürfte nicht vor Ende 2006 abgeschlossen sein. Aber auch ich warne vor zu großen Hoffnungen auf die Umfinanzierung der Sozialsysteme durch Steuern. Es ist richtig, diesen Weg zu gehen, aber markante Beschäftigungserfolge sind davon nicht zu erwarten.

Lauterbach:

Da haben wir einen sehr wichtigen Konsens. Es ist einfach falsch, dass ein Prozentpunkt Beitragssenkung 150.000 Jobs bringt.

Die Senkung des Arbeitslosenbeitrags um zwei Punkte wird also nicht viel bewirken?

Lauterbach:

Damit schafft man vielleicht 60.000 oder 80.000 Jobs. Wenn ich die gleiche Summe für den Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit einsetze, erreiche ich viel mehr. Ich bin nicht dafür, flächendeckend Kombilöhne einzuführen, sondern gezielt für Langzeitarbeitslose.

Kann die Erhöhung der Mehrwertsteuer ökonomischen Schaden anrichten?

Rürup:

Wir haben nur etwa ein Prozent Wachstum, und bereits ein kleiner Schock lässt die Wirtschaft wieder in die Stagnation fallen. Wenn die Mehrwertsteuer in einer wirtschaftlich schwachen Situation zur Konsolidierung des Haushalts erhöht wird, kann sie kurzfristig nur zu etwa 60 Prozent in den Preisen weitergegeben werden. Der Rest würde zu einer Gewinnbesteuerung. Und nicht bei ertragsstarken Exportunternehmen, sondern bei ertragsschwachen binnenwirtschaftlich orientierten Firmen, wie im Einzelhandel.

Wann wäre die Erhöhung gefahrlos?

Rürup:

In einem stabilen Aufschwung kann man die Mehrwertsteuerkarte spielen, und sie sollte mit großen Reformprojekten wie zum Beispiel einer Unternehmenssteuerreform kombiniert sein.

Wie könnte die Schockwirkung aussehen?

Rürup: Es würde einen weiteren Schub in die Schwarzarbeit geben. Wir haben viel an den Rändern, aber kaum in der Breite des Arbeitsmarkts flexibilisiert, mit Mini-Jobs, Midi-Jobs, Ein-Euro-Jobs, Ich-AGs. Damit sind auch Anreize verbunden, sozialversicherungspflichtige Jobs umzuwandeln.

Ist die Chance zur Reform der Sozialsysteme mit der Steuererhöhung verspielt?

Lauterbach:

Einstweilen ja. Wir haben die Gelegenheit zu einem großen Schritt verpasst, nämlich die Krankenversicherung der Kinder, die etwa 15 Milliarden Euro kostet, über zwei Prozentpunkte Mehrwertsteuer zu finanzieren.

Sie waren bei den Koalitionsverhandlungen dabei. Was ist da passiert?

Lauterbach:

Sie dürfen nie den Einfluss der Lobbygruppen unterschätzen. Wenn wir die Kinderversicherung durch Steuern bezahlen und die beitragsfreie Mitversicherung für Ehefrauen ein Stück weit auflösen würden, gäbe es eine Massenflucht der gesetzlich Versicherten zu den privaten Kassen, denn da hat man's dann billiger und wird beim Arzt bevorzugt behandelt. Daher sind solche Vorschläge nur möglich, wenn man die gesetzliche Krankenversicherung schützt, indem man die Versicherungspflichtgrenze an- oder sogar aufhebt. Da erhebt sich aber sofort das Geschrei der Lobbyisten.

Rürup:

Die letzte Gesundheitsreform war richtig, aber keine Reform zur Senkung, sondern allenfalls zur Stabilisierung der Beiträge. Bald steigen die Beiträge wieder.

Lauterbach:

Die Kerze brennt an zwei Enden: Wir verlieren sozialversicherungspflichtige Beschäftigung - 150.000 bis 200.000 Arbeitsplätze im nächsten Jahr -, und zusätzlich wandern in jedem Jahr die 200.000 lukrativsten Mitglieder in die privaten Kassen ab. Damit verliert die gesetzliche Krankenversicherung 400.000 Mitglieder pro Jahr. Selbst bei konstanten Kosten müssen die Beiträge steigen.

Rürup:

Deshalb sollte mehr Wettbewerb durchgesetzt werden: Direktverträge zwischen Kassen und Ärzten, Beschränkung des Einflusses der Kassenärztlichen Vereinigungen. Außerdem sollten sich die Krankenhäuser mehr für die ambulante Versorgung öffnen. Und wir sollten Apothekenketten zulassen. Nichts davon hat die Koalition bislang vereinbart.

Lauterbach:

Bei jedem Vorschlag, der die Geschäftsinteressen der privaten Kassen berührt, kommt das Veto konservativer Politiker. Das ist der Lackmustest. Die gehen raus aus dem Saal und verkünden dann: Das geht nicht. Aber es gibt ein paar Stellen, an denen der Rubikon überschritten werden muss, damit die Beiträge sinken.

Was tut die große Koalition?

Lauterbach:

Was in den Verhandlungen erreicht wurde, spart im Arzneimittelsektor 2 bis 2,5 Milliarden Euro.

Also 0,2 Beitragspunkte. War die Pharmalobby doch nicht so gut?

Lauterbach:

Sie ist extrem gut. 2005 haben wir bei Arzneimitteln wahrscheinlich eine Kostensteigerung von vier Milliarden Euro. Die Versorgung ist nicht besser geworden. Es werden sogar weniger Arzneimittel verordnet. Die gleiche Versorgung ist einfach nur teurer geworden. Vier Milliarden Euro! Es gibt keine andere Industrie, die durch den Verkauf des gleichen Produkts 20 Prozent Umsatzsteigerung erreichen könnte.

Was passiert nun?

Lauterbach:

Wir haben wenigstens ein Verbot der so genannten Naturalrabatte verabredet. Das ist nichts anderes als eine Form der Bestechung: Dem Apotheker wird für die Ausgabe eines zu teuren Generikums eine Packung geschenkt. Außerdem haben wir einen Rabattzwang und ein Preismoratorium verabredet. Pseudoinnovationen, also Medikamente, die minimal verändert werden und somit nicht besser, aber unsicherer sind als ihre Vorgänger, können nicht mehr so leicht zum Höchstpreis verkauft werden.

Geht es nur um Wettbewerb, oder muss auch die große Reform - Kopfpauschale oder Bürgerversicherung - angegangen werden?

Lauterbach: 2006 müsste beides angepackt werden. Beschlüsse zum Wettbewerb sind schon gefasst. Da kann man noch mehr tun. Indem wir die Rechte der Kassenärztlichen Vereinigungen beschneiden und die Fachärzte im Krankenhaus ambulante Patienten behandeln dürfen. Es wird demnächst Bestrahlungsgeräte für die Protonentherapie von Krebs geben, die pro Stück mehr als 90 Millionen Euro kosten. Jetzt bemühen sich niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser gleichzeitig um den Aufbau dieser Geräte. Das ist irrsinnig.

Und zur Klärung des großen Systemstreits wird wieder eine Kommission eingesetzt?

Rürup:

Könnte sein. Lauterbach: (lacht) Als Mitglied des Bundestags kann ich jetzt nicht mehr für Kommissionen sein. Bert, deine Zeit ist vorbei. Dann sollten Sie auch für den Bundestag kandidieren, Herr Rürup.

Rürup:

Nein, nein, ein political animal wie Karl bin ich nicht.

Gibt es einen Kompromiss zwischen Kopfpauschale und Bürgerversicherung?

Lauterbach:

Es wird nicht möglich sein, weitere deutliche Beitragserhöhungen für 2007, 2008 und 2009 zu verhindern, ohne dass wir auch daran arbeiten. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass man die einkommensabhängigen Beiträge belässt, aber durch Steuermittel ergänzt, um damit die bislang beitragsfreie Mitversicherung der Kinder zu finanzieren.

Rürup:>

Wir haben in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungsfremde Leistungen von über 40 Milliarden Euro. Davon sind etwa 30 Milliarden Einkommensumverteilung. Diese Umverteilung sollten eigentlich alle Staatsbürger leisten, nicht nur die Beitragszahler.

Sollen auch Selbstständige und Beamte zur gesetzlichen Kasse verpflichtet werden?

Rürup:

Die Bürgerpauschale ist das ökonomisch überlegene Konzept. Sie kombiniert über eine allgemeine Versicherungspflicht den umfassenden Versichertenkreis der Bürgerversicherung mit der Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten, wie es die Gesundheitsprämie will. Private und gesetzliche Kassen könnten dann diese Basisabsicherung auf einem gemeinsamen Markt anbieten. Wenn wir das nicht hinbekommen, weil die Pauschale nicht durchsetzbar ist, müssen wir nach Lösungen unterhalb der Systementscheidung suchen. Da könnte ich mir in der Tat vorstellen, dass eine steuerfinanzierte Kinderversicherung ein Weg wäre. Allerdings darf das nicht zu allgemeinen Beitragssenkungen führen. Die Rentner finanzieren mit ihren Beiträgen derzeit weniger als die Hälfte ihrer Kosten. Bei einer allgemeinen steuerfinanzierten Beitragssenkung würde diese Quote noch weiter sinken.

Entlastung nur für aktive Beitragszahler?

Rürup: Wenn man die Rentner ausnimmt, könnte man den Beitrag um fast zwei Prozentpunkte senken.
Lauterbach: Aber das kann nur funktionieren, wenn alle in einer der Kassen der Bürgerversicherung sein müssen. Sonst gibt es eine Flucht in die privaten.
Rürup: Das funktioniert auch bei einer Versicherungspflichtgrenze, wenngleich es für eine solche Grenze keine ökonomische Begründung gibt. Aber es gibt vielleicht noch einen zweiten Punkt, der konsensfähig sein könnte. Wir diskriminieren gegenwärtig Doppelverdiener. Nehmen wir an, ein Mann als Alleinverdiener - Modell Pascha - verdient 5000 Euro, zahlt 14 Prozent von 3500 Euro, die Ehefrau ist mitversichert. Jetzt nehmen wir die Doppelverdiener: Beide verdienen 2500 Euro. Sie zahlen zweimal 14 Prozent von 2500 Euro. Man könnte für Ehepaare eine doppelte Beitragsbemessungsgrenze einführen - aber nur beim Versicherten, der Arbeitgeberanteil darf nicht steigen.

Pascha-Paare sollen mehr bezahlen.

Lauterbach:

Verdopplung muss nicht sein, aber im Grundsatz ist das richtig, wenn das Paar keine Kinder hat.

Rürup:

Ich glaube, auf mehr wird man sich in dieser Legislaturperiode nicht einigen können. Das würde auch den Weg zur Pauschale nicht verbauen.

Lauterbach:

Das Problem ist nur: Die Union wird sich sehr schwer tun damit, weil es dort eine Gruppe von Abgeordneten gibt, die sich an den Geschäftsinteressen der privaten Assekuranz orientieren. Das heißt, die beiden Professoren, die sich so lange gestritten haben, empfehlen jetzt ein Kompromissmodell - aber die zwei Prozent Mehrwertsteuer, die dafür notwendig wären, werden für den Haushalt verbraten.

Rürup:

Mehrwertsteuererhöhungen für den Etat verstellen den Weg sowohl für eine Umfinanzierung der Sozialversicherungen wie für die dringend erforderliche Reform der Unternehmensbesteuerung.

Lauterbach:

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir diese Lösung zu einem späteren Zeitpunkt doch noch schaffen.

Interview: Hans-Ulrich Jörges, Lorenz Wolf-Doettinchem

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