Gefoltert, vergewaltigt, erhängt - zwölf Stunden wurde Hermann H. in der Justizvollzugsanstalt im nordrhein-westfälischen Siegburg von seinen Mithäftlingen gequält und schließlich zum Selbstmord gezwungen. Die Tat - ein Einzelfall? stern.de sprach mit Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ), über Überbelegung, Gewalt und Personalbedarf in den Jugendstrafanstalten.
Sie sind Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Worin besteht die Tätigkeit der DVJJ?
Das ist ein Fachverband der Jugendkriminalrechtspflege. Er hat die Aufgabe, alle mit der Jugendkriminalität zusammenhängenden Fragen praxisorientiert auf wissenschaftlicher Grundlage zu lösen oder einen Beitrag zur Lösung zu leisten. Wir sind ein Stück weit auch Lobby für straffällig gewordene Jugendliche und unsere Vorschläge gehen in die zuständigen Ministerien.
Zur Person
Bernd-Rüdeger Sonnen ist der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen
Sie kennen die Zustände in den Jugendstrafanstalten. Wie sieht der Alltag dort aus?
Vorgänge wie etwa in Siegburg - der Foltermord - sind sicher in der extremen Form eine absolute Ausnahme. Aber sie zeigen, dass der Alltag in den deutschen Jugendstrafanstalten dringend verbesserungsbedürftig ist, weil wir aktuell eine Überbelegung haben. Das heißt, wir brauchen kompetentes Personal, und zwar mehr Personal. Auch mehr Fachlichkeit im Umgang mit Gewalt. Und dann brauchen wir dringend stärkere Lockerungsmöglichkeiten, weil die größte Gefährdungssituation in der Geschlossenheit besteht. Je geschlossener eine Einrichtung ist, desto mehr Subkultur entsteht. Je mehr Subkultur, desto mehr Gewalt.
Zu dem Mordfall in der Jugendstrafanstalt in Siegburg. Sind Ihnen von dort auch andere Fälle bekannt?
Aus Siegburg gab es in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang einen vergleichbaren Fall, der aber im Versuchsstadium glücklicherweise stecken geblieben ist. Das heißt, der Gefangene ist nicht zu Tode gekommen. Auch in anderen Anstalten gab es einen solchen Fall. Aber glücklicherweise ist das nicht die Normalität.

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Warum musste sich das Opfer in Siegburg, Hermann H., der wegen Diebstahls eine sechsmonatige Haft verbüßen sollte, eine Zelle mit jungen Straftätern teilen, die wegen Gewaltdelikten einsaßen? Ist das normal?
Das ist hoffentlich nicht normal. Hier gab es eine einfache Erklärung: Eine Zelle musste renoviert werden und eine andere Zelle deshalb nur für die Zeit der Renovierung mit vier Leuten belegt werden. Da hätte man allerdings sorgfältiger gucken sollen, mit welchen jungen Menschen Hermann H. dort zusammen kommt.
Müssten jugendliche Strafgefangene, die wegen Gewaltdelikte einsitzen, nicht strikteren Kontrollen und Regeln unterworfen oder in Einzelzellen untergebracht werden?
Im Prinzip sollte jeder junge Gefangene das Recht haben auf Einzelunterbringung. Aber Schulmaßnahmen, berufliche Maßnahmen, Freizeitgestaltung - das sind Dinge, die ohnehin in Gemeinschaft erfolgen. Eine Überbelegung, die zu solchen Extremsituationen führt, muss verhindert werden. Und es ist ganz interessant, wie Nordrhein-Westfalen reagiert hat: Sofort wurden die Vier-Mann- und Drei-Mann-Zellen abgebaut.
Haben die Zustände in Siegburg den Mord begünstigt?
Die Überbelegung auf alle Fälle. Ein Zustand, den es eben nicht nur in Siegburg gibt, ist die mangelhafte Betreuung, die mangelhafte personelle Ausstattung am Sonnabend und am Sonntag. Und dort passiert mehr als innerhalb eines strukturierten Tagesablaufs während der Woche. Da haben wir personelle Defizite, da haben wir viel zu wenige Angebote, um konstruktiv die Freizeit zu gestalten.
Wer ist denn persönlich für die Tat verantwortlich?
Zunächst sind das die drei jungen Menschen, die hier den Gefangenen in den Selbstmord getrieben haben. Aber es gibt natürlich auch so etwas wie Fingerspitzengefühl oder den Blick für Gefahrensituationen. Und wenn vier Leute in einer Anstalt sind und drei beschließen, jemanden zum Opfer zu machen, dann wirken dort Eskalationsprozesse und gruppendynamische Effekte. Dafür muss jeder, der im Vollzug tätig ist, ein Gespür haben.
Was haben die Aufseher falsch gemacht?
Ich möchte nicht persönlich Schuld zuweisen. Das ist eine Frage der Ermittlungen. Es sind mit Sicherheit Fehler begangen worden. Wenn ein Rufknopf in einer Vier-Mann-Zelle gedrückt wird, dann darf man sich nicht so ohne weiteres damit zufrieden geben, wenn gesagt wird, es war ein Fehlalarm und man sieht nur drei Leute. Man hätte sofort assoziieren müssen: Was ist eigentlich mit dem Vierten? Es ist skandalös, dass man zunächst das Ganze im unmittelbaren Umfeld so dargestellt hat, als käme es überhaupt nicht in Betracht, dass hier Leute außer den Tätern ein Stück Mitverantwortung haben.
Würden Sie sagen, dass der Strafvollzug in der derzeitigen Form verfassungswidrig ist?
Der Jugendstrafvollzug ist mangels eines Jugendstrafvollzugsgesetzes verfassungswidrig. Das ist eine grundsätzliche Problematik. Das sagt noch nichts darüber aus, ob oder dass einzelne Zustände in einzelnen Anstalten verfassungswidrig sind. Mit Sicherheit ist die Überbelegung ein Problem. Mit Sicherheit ist die Frage der Disziplinarmaßnahmen ein Problem. Es gab Fälle in Hamburg, wo jemand vermeintlich zum Selbstschutz stundenlang nackt gefesselt worden ist. Es gibt immer mal wieder Situationen, wo jemand im Arrest - das ist die härteste Disziplinarmaßnahme - schlichtweg vergessen worden ist. Der Jugendstrafvollzug ist alles andere als ein kriminalitätsfreier Raum.
Wie wünschen Sie sich den Jugendstrafvollzug in Zukunft?
Der künftige Jugendstrafvollzug als Chancenvollzug, der auf Förderung junger Menschen abzielt und über die Förderung dann eben auch das Selbstwertgefühl des Gefangenen erhöht. Das führt zu erhöhter sozialer Kompetenz. Und die soziale Kompetenz beweist sich dann darin, wie ich anderen gegenüber auftrete, ob ich die Rückfallgefahren abgebaut habe und Opfer vermeiden kann.