Professor Hüther, Frühförderung, muss das sein?
Was zurzeit passiert, ist eine gigantische Hysterie. Es wird ohne Sinn und Verstand gefördert, auch Fähigkeiten, für die das kindliche Gehirn noch gar nicht reif ist und die nur den Vorstellungen ehrgeiziger Eltern entsprechen. Gesunde Kinder lernen von ganz allein und in ihrem eigenen Tempo. Sie legen sich die Latte immer selber ein Stückchen höher - ohne dass es jemand von ihnen erwartet.
Das heißt, auch ohne Early English und musikalische Früherziehung hat mein Sohn oder meine Tochter Chancen, später erfolgreich in Schule und Beruf zu sein?
Ja. Allerdings müssen Eltern dafür sorgen, dass genügend Anregungen zum Spielen und Experimentieren da sind und der Wissensdurst der Kleinen gestillt wird. Aber bevor Sie mit Kursen anfangen, sollten Sie Ihrem Kind erst mal selbst Freude am Lernen vermitteln, es motivieren. Wer das tut, braucht sich keine Sorgen zu machen.
Aber was spricht gegen frühen Englisch-unterricht?
Nichts, wenn er in den Alltag integriert ist. Mit strukturierten Kursen schon für Dreijährige, für die Eltern viel Geld bezahlen und wo sie hinterher erwartungsvoll fragen, "Na, was hast du heute gelernt?", bauen sie leicht Druck auf, und der blockiert das Gehirn. Sie erreichen genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollten. Ich kenne viele Kinder, die trauen sich schon nicht mehr, selbst ein Bild zu malen oder ein Lied zu singen, weil sie enttäuscht sind von ihrem kläglichen Ergebnis.
Die neueste Hirnforschung erklärt aber, dass man nie wieder so leicht eine Sprache lernt wie in den ersten Jahren.
Ja, aber es gibt auch für andere Fähigkeiten Lernfenster. Zum Beispiel für Moral und Sozialverhalten. Aber damit lässt sich kein Geld verdienen, und deswegen erfährt auch niemand davon. Zudem ist die Vorstellung von einem Fenster, das eine gewisse Zeit offen steht, um sich dann für immer zu schließen, falsch. Eine neue Sprache können Sie, wie die meisten von uns aus eigener Erfahrung wissen, auch noch im Erwachsenenalter erlernen.

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Aber nicht mehr akzentfrei.
Na und? Jeder Zweite in Amerika spricht mit Akzent. Was wissen wir schon, welche Fähigkeiten in 20 Jahren gefragt sind? Ich würde alle Eltern davor warnen, Fähigkeiten wie beispielsweise die sprachlichen einseitig zu fördern. Natürlich können sie schon im Mutterleib mit dem Baby-Tuning beginnen. Doch das geht immer zulasten von anderen Fähigkeiten. Ein Kind, das schon mit drei Jahren perfekt Geige spielt, geht eben in der Regel nicht mehr zum Fuß- oder Volleyball. Es ist unser Narzissmus, solche Kinder heranzuzüchten. Und nicht wenige dieser so genannten Wunderkinder landen als Erwachsene in der Psychiatrie. Doch über die spricht keiner mehr in der Öffentlichkeit.
Wie mache ich es denn richtig?
Wenn wir mal das Beispiel Englisch nehmen, lernen Sie am besten zusammen mit ihrem Kind die Sprache. Singen englische Lieder, gucken englische Bilderbücher an, machen Urlaub im Ausland. Und wenn Sie selber die Sprache nicht so besonders können, umso besser. Was glauben Sie, was das für ein Erfolgserlebnis ist für ein Kind, wenn es seiner Mutter oder seinem Vater auch mal voraus ist und ihnen etwas beibringen kann.