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Kampf gegen vierte Welle An den Corona-Beschlüssen lassen sich drei Dinge ablesen

Die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Olaf Scholz (SPD), designierter SPD-Kanzler
Die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Olaf Scholz (SPD), designierter SPD-Kanzler und geschäftsführender Bundesminister der Finanzen
© John Macdougall / AFP / DPA
Auch mit Olaf Scholz bleiben sich Bund und Länder treu: Die heutigen Beschlüsse kommen mindestens zwei Wochen zu spät.

Es sind keine fünf Stunden mehr bis zum Zapfenstreich, der Angela Merkel nach 16 Jahren als Regierungschefin verabschieden soll, da muss die Kanzlerin noch ein allerletztes Mal vollumfänglich Kanzlerin sein. Die Pandemie lässt keine Zeit für einen sanften Rückzug aus dem Amt. Noch einmal hat sie mit den Ministerpräsidenten gerungen. Noch einmal tritt sie danach vor die Presse. Noch einmal appelliert sie an die Bevölkerung: Die Lage ist ernst!

Was Merkel und die Länderchefs und -chefinnen am Donnerstag entschieden haben, ist nicht wirklich neu. Vor zwei Tagen schon beriet die Runde über die richtigen Lehren aus den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts für die Pandemiebekämpfung. Aber weil das ein informelles Treffen war, folgt die offizielle Verkündung nun mit zwei Tagen Verspätung.

Zur Erinnerung, diese Maßnahmen waren erwartet worden – und kommen nun:

  • Bis Ende des Jahres soll das Ziel von 30 Millionen Impfungen seit November erreicht werden.
  • Der Impfstatus wird nicht dauerhaft anerkannt, sondern nach einer gewissen Zeit – im Gespräch sind neun Monate – verfallen. Aber es soll Übergangsfristen geben, um die Impfung auffrischen zu können.
  • Die 2G-Regel wird auf den Einzelhandel ausgeweitet und gilt auch bei Freizeitveranstaltungen.
  • Die Teilnehmerzahl für überregionale Sport-, Kultur- und vergleichbare Großveranstaltungen wird eingeschränkt. Künftig dürfen maximal noch 30 bis 50 Prozent der Kapazität genutzt werden. In Innenräumen dürfen es aber höchstens 5000 Besucher sein, im Freien höchstens 15.000.
  • Wenn bei privaten Treffen eine Person nicht geimpft ist, gilt eine strikte Kontaktbeschränkung auf einen Haushalt plus zwei weitere Personen aus einem anderen.
  • Spätestens ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 350 müssen Clubs und Diskotheken schließen.
  • Bei dieser Inzidenz werden auch private Treffen begrenzt: auf 50 Personen in Innenräumen, 200 Personen im Außenbereich.
  • An Schulen gilt eine Maskenpflicht

Es ist ein De-Facto-Lockdown für Ungeimpfte, den die MPK heute beschlossen hat. Das Impfprogramm ist ambitioniert und wird nun von einem Bundeswehrgeneral organisiert – kann die vierte Welle allein aber nicht sofort brechen. Und so bleibt die Frage, ob sich mit diesen Maßnahmen Kontakte wirklich ausreichend reduzieren lassen. Oder ob härtere Regeln auch für Geimpfte und Geboosterte nicht doch ganz hilfreich wären, wie es etwa die Wissenschaftler der Leopoldina fordern.

In dieser Hinsicht bleibt sich die MPK also treu: Was jetzt kommt, wäre vor zwei Wochen nötig gewesen. Und was jetzt noch nötig wäre, kommt dann in zwei Wochen.

Bald-Kanzler Olaf Scholz muss jetzt liefern

Politisch gesehen lassen sich drei weitere Schlüsse aus dieser Pressekonferenz ziehen. Die Bekämpfung der Pandemie liegt jetzt, erstens, endgültig in den Händen der Ampelkoalition – und damit bei Olaf Scholz. An ihn gingen alle wichtigen Fragen. Er trägt jetzt nicht mehr nur die Verantwortung dafür, ob die neue Überbrückungshilfe IV pünktlich bei allen Selbstständigen ankommt. Er trägt die Gesamtverantwortung.

Scholz muss jetzt liefern. Seine Regierung bekommt keine Schonfrist von 100 Tagen. Sie wird nach drei Wochen im Amt daran gemessen werden, ob 30 Millionen Dosen Impfstoff ihren Weg in die Oberarme der Deutschen gefunden haben. 

"Sie sehen an den Beschlüssen, dass wir verstanden haben, dass die Lage sehr ernst ist", sagte Merkel. Und meinte damit sicherlich nicht, dass sie selbst besonders lange für diese Erkenntnis gebraucht hätte. Die heutigen Beschlüsse markieren vielmehr, zweitens, ein Eingeständnis der neuen Regierung aus SPD, Grünen und FDP, die Infektionszeichen der Zeit zu spät erkannt zu haben. Das gerade erst von der Ampelkoalition durch Bundestag und Bundesrat gebrachte Infektionsschutzgesetz wird nachgebessert. Noch einmal.

Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" hat die Ampel abgeschafft, als erstes gemeinsames Projekt, noch bevor man überhaupt einen Koalitionsvertrag hatte. Davon bleibt nun nicht viel mehr übrig als ein bisschen deplatzierte Freedom-Day-Symbolik. Übergangsfristen für Maßnahmen der epidemischen Lage sollen noch einmal verlängert werden. Instrumente, von denen sich insbesondere die FDP für immer verabschieden wollte, werden nachträglich ins Gesetz geschrieben.  

Das wirkt nun in etwa so, als versuche man einem Kind die Stützräder wieder ans schlingernde Fahrrad zu schrauben, während es gerade einen Berg hinunterrast.

Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte, 2G im Einzelhandel: Merkel, Scholz und Co. erklären die neuen Corona-Regeln

Hinzu kommt, dass der demokratietheoretisch durchaus lobenswerte Versuch der Ampel-Parteien, die Pandemiepolitik ins Parlament zu verlegen, mit dieser MPK vorerst gescheitert ist. Wenn die Lage richtig ernst wird, das ist die dritte Erkenntnis dieses Tages, müssen die Deutschen doch wieder auf ein Gremium vertrauen, dessen Uneinig- und Uneinsichtigkeit sie eigentlich längst überdrüssig sind: der Ministerpräsidentenkonferenz.

"Wir haben heute von einem Akt der Solidarität gesprochen, damit wir unser Gesundheitssystem entlasten und nicht überlasten", sagte Merkel noch bei dieser, ihrer wohl letzten Pressekonferenz. Sie überlässt ihrem Nachfolger ein Land, dessen Vorrat an Solidarität längst auf ein kritisches Maß geschrumpft ist.

fs

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