Die Angeklagte lächelt flüchtig ihrem Ex-Mann zu, als er sich auf den Zeugenstuhl setzt. Der nickt kurz zurück und starrt an ihr vorbei. Sie strahlt ihre Mutter an, und sie strahlt ihre ältere Schwester an, als die dort Platz nehmen müssen. Die Frauen senken ihre Köpfe. Sie weint, als ihre drei Kinder aufgerufen werden, aber sie tupft sich schnell die Tränen weg, als fürchte sie um ihr sorgfältig geschminktes Gesicht. Ihre Kinder schauen weg oder an ihr vorbei. Auch im Gerichtssaal macht die Familie von Sabine Hilschenz das, was sie offenbar schon immer gut konnte: wegsehen - und schweigen.
Seit zwei Wochen wird vor dem Landgericht Frankfurt/Oder einer der rätselhaftesten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte verhandelt. Der Vorwurf: achtfacher Totschlag. Sabine Hilschenz ist die Frau, die zwischen 1988 und 1998 neun ihrer 13 Kinder umgebracht haben soll, immer gleich nach der Geburt. Die erste Tat, noch zu DDR-Zeiten begangen, ist verjährt. Kein Mensch will etwas von diesen neun Schwangerschaften bemerkt haben. Nicht ihr Ehemann Oliver, 43, nicht ihre drei ersten Kinder, die sie leben ließ: Steffi, Dan und Ivo, heute 21, 20 und 19 Jahre alt. Nicht ihre Familie, kein Nachbar, kein Arbeitskollege, kein Amt.
Sabine Hilschenz versteckte die neun kleinen Leichen in Kübeln, Farbeimern und einem Aquarium. Bepflanzte die Gefäße mit Blumen, Tomaten und Kräutern und stellte sie auf den Balkon ihrer Plattenbauwohnung in Frankfurt/Oder. Dort lebte sie seit 1988 mit Mann und den überlebenden Kindern bis zum Scheitern der Ehe im Jahr 2002. Sabine Hilschenz blieb zurück. Und trank. Bis zu drei Flaschen Schnaps am Tag. Wegen Mietschulden wurde ihre Wohnung im Sommer 2003 zwangsgeräumt. Da war sie zum 13. Mal schwanger, nun mit einem Kind von einem neuen Partner, das sie leben ließ: Elisabeth, heute zweieinhalb Jahre alt.
Mit ihren Habseligkeiten zog Sabine Hilschenz kurzzeitig zu ihrer Mutter nach Brieskow-Finkenheerd. In dem 2700-Einwohner-Dorf zwischen Frankfurt/ Oder und Eisenhüttenstadt war sie aufgewachsen. Die Behältnisse deponierte sie hinter dem Haus in einer heruntergekommenen Garage. "Geht nicht an meine Töpfe", warnte Sabine Hilschenz damals ihre Verwandten, "da sind Knollen drin."
Da blieben sie. Bis zum 31. Juli des vergangenen Jahres. Bis zu jenem Tag, als ihr Neffe Frank die Garage entrümpelte und eine fürchterliche Entdeckung machte: In einem der Gefäße fand er einen kleinen Schädel und Knochenreste. Die "Knollen", so stellte sich heraus, waren die sterblichen Überreste von sieben Mädchen und zwei Jungen.
In der 54-seitigen Anklageschrift
kommt die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss: Der Anblick des ersten toten Kindes habe Sabine Hilschenz "nicht aufgerüttelt", sondern sie habe danach ihre acht weiteren Schwangerschaften strategisch und raffiniert vertuscht und dabei "beinahe Routine entwickelt". Die Säuglinge hätten sterben müssen, weil die Beschuldigte glaubte, nur so ihre erste Tat aus dem Jahr 1988 verdecken zu können - nach dem Strafgesetzbuch ein so genanntes Mordmerkmal. Also lautete der Vorwurf der Ankläger: einmal Totschlag und achtmal Mord.

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Das Landgericht Frankfurt/Oder ließ die Anklage zu - allerdings mit zwei gravierenden Änderungen: Die erste Kindstötung, für die der damals gültige DDR-Strafrahmen eine Strafe bis zu zehn Jahren vorsah, ist inzwischen verjährt; für die acht folgenden Taten sei das Mordmotiv nicht erkennbar. Vielmehr habe Sabine Hilschenz Angst gehabt, durch die Geburt weiterer Kinder ihren Ehemann zu verlieren und der zunehmenden Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Daraus begründe sich nur der Verdacht des achtfachen Totschlags.
Eine Frau trägt neunmal kleine Leben in ihrem Bauch. Fühlt, wie sie in ihr wachsen. Spürt das Strampeln ihrer Babys. Gebärt sie, bringt sie um. Alle neun, gleich nach der Geburt. Alles allein, lautlos, spurenlos. Kann es wirklich so gewesen sein, wie es ihr die Anklage vorwirft?
Es gibt katastrophale Biografien, an deren Beginn nichts auf die Katastrophe hindeutet. "Sabine Hilschenz war ein Wunschkind, ein Nesthäkchen", sagt eine Nachbarin aus Brieskow-Finkenheerd. Sabines Eltern hatten schon zwei ältere Töchter. "Aber Bine war Papas Liebling. Sie sind zusammen gewandert, haben sich stundenlang Super-8-Filme angeschaut", erinnert sich eine Freundin der Familie. Mutter Martha war Hausfrau und hütete ihre drei Mädchen. Vater Eberhard, 2002 verstorben, arbeitete als Stellwerker bei der Bahn. Das Haus adrett, ein großer Garten, nachmittags randvoll mit fröhlicher Lärmerei: eine umsorgte Kindheit.
Klassenkameraden beschreiben das Mädchen Sabine als "klug, hübsch, schüchtern - Jungs und Disko waren nichts für sie". In ihren Oberschulzeugnissen finden sich fast nur Einser. Pionier-Zeit, FDJ, Jugendweihe, Mitglied im Ruderklub - alles ganz normal.
Mit 17 Jahren zieht Sabine nach Eisenhüttenstadt und beginnt eine Ausbildung als Zahnarzthelferin. Ein Jahr später, 1983, verliebt sie sich auf einer Maifeier in Oliver Hilschenz: gut aussehend, charmant, ein Frauentyp. Und bei der Stasi. Er ist wohl der erste Mann, mit dem sie schläft. Bald merkt sie, dass sie schwanger ist. "Ihre Eltern waren nicht begeistert, weil Sabine noch so jung war", erinnert sich die Familienfreundin. "Aber ihre Mutter hat mir gesagt: "Es ist die große Liebe, dann muss es wohl sein."" Im Juni 1984 wird Steffi geboren, sie ist kein Wunschkind. Oliver Hilschenz, damals 21, sagt, er wolle kein weiteres Kind mehr. Sabine stimmt zu.
Doch die große Liebe bekommt schnell Risse. Der erste Bruch in einer bislang unauffälligen Biografie. Immer wieder gibt es Krach, immer wieder geht es um Verhütung. Sabine lenkt ein, nimmt nun die Pille, vergisst sie aber, so eine ihrer späteren Ermittlungsaussagen, "immer wieder mal". Prompt wird sie erneut schwanger. Nach Dans Geburt verspricht Sabine Hilschenz, nun aufzupassen. Und wird doch zum dritten Mal schwanger.
Erst im sechsten Monat sagt sie es ihrem Ehemann. Für eine Abtreibung ist es zu spät. Warum aber sagt sie es ihm so spät? Weil sie sich noch ein drittes Kind wünschte? Oder, einfacher, weil sie "sich schämt, entgegen der Absprache unzureichend verhütet zu haben", wie die Staatsanwaltschaft vermutet?
Dabei war Verhütung in der DDR kein Problem: Es gab sechs verschiedene Antibabypillen, kostenlos auf Rezept, wie auch die Spirale. Kostenlos und einfach war auch die sozialistische Abtreibung: auf mündlichen Antrag, Begründung unnötig.
Im November 1986 kommt Ivo zur Welt. Und obwohl Oliver Hilschenz stocksauer ist, weil er zum dritten Mal erlebt, wie - aus seiner Sicht - unzuverlässig seine Frau verhütet, schläft er weiter mit ihr - mal mit Kondom, mal ohne. Sabine Hilschenz beginnt zu trinken, er schlägt sie - die Reihenfolge ist nicht klar.
Mit der Wende 1989
kommen neue Probleme: Oliver, beim Zoll untergekommen, verliert seine Stelle, weil seine Stasi-Vergangenheit bekannt wird. Er schlägt sich als Textilvertreter und Fußbodenverleger durch, macht Umschulungen, seit 2002 ist er arbeitslos. Sie jobbt für Callcenter und kommt in zwei AB-Maßnahmen unter. Man habe in dieser "Phase nebeneinander her gelebt", nur sporadisch über die Kinder geredet, meist aber "wortlos ferngesehen", sagen die Eheleute Hilschenz in ihren Vernehmungen im Sommer 2005 übereinstimmend aus. Und sie hätten immer weniger Sex gehabt.
Auch wenn in all den Jahren intim angeblich nicht mehr viel passierte - es reichte für neun verschwiegene Schwangerschaften, für neun tote Babys. Versteckt in neun Gefäßen, in denen Sabine Hilschenz makabrerweise Petersilie und Schnittlauch züchtete, die sie ihrer Familie servierte. Ihr Mann übergibt sich, als er bei der Polizei davon erfährt.
Statt neun lebendiger Kinder, das älteste wäre heute womöglich kurz vor dem Abitur, das jüngste Zweitklässler, gibt es nur "Leichenfundsachen" - durchnummeriert von eins bis neun. Überreste, die von Gerichtsmedizinern gründlich untersucht worden sind. Von ihnen erhofften sich die Ermittler eine Antwort auf die zentrale Frage des Prozesses: Wie starben die Babys? Wurden sie erstickt, ertränkt, erschlagen, oder sind sie verdurstet? Oder waren es gar Totgeburten?
Die namenlose Nummer sieben der Obduktionen war einmal ein Mädchen. Von ihr blieb nichts - nur ein "weißlichgelb-grünlicher Gewebsbrei", verpackt in einer "Minimal"-Tüte mit dem Aufdruck "Recycling - denn Umwelt ist unersetzbar". Ihre Schwester, die Leichenöffnungsnummer fünf, hatte "2,5 Zentimeter lange dunkelbraune Haare". Sie steckte in "einem Kissenbezug mit Blütenmuster, mit Femina-Damenbinden und einem Schulterpolster". Alle neun Knochenpuzzles lesen sich ähnlich. Auch die Befunde: Wegen "hochgradiger Leichenfäulnis" sei die "Eingrenzung der Leichenliegezeit nicht möglich", die Todesart "nicht feststellbar". Es war nicht einmal mehr herauszufinden, ob die Säuglinge überhaupt je gelebt haben.
Wenn aber nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass die Babys Totgeburten waren, dann hätte Sabine Hilschenz nur gegen das Bestattungsgesetz verstoßen - eine Ordnungswidrigkeit mit Geldstrafe. Ist das möglich?
Experten wie der langjährige Chef der Neugeborenenstation im Berliner Westend-Klinikum, Hans-Ludwig Spohr, halten "so eine Serie für extrem unwahrscheinlich. Vor allem, wenn die Frau zuvor bereits drei gesunde Kinder entbunden hat". Auch die Theorie, der Alkoholmissbrauch habe zu den Totgeburten geführt, hält Spohr für falsch: "Diese Frauen bekommen zwar häufiger zu früh Babys, nicht aber tote." Spohr forscht seit drei Jahrzehnten zum Thema Schwangerschaft und Alkoholismus. Frühgeburten allerdings schließt das Obduktionsergebnis aus - die neun Hilschenz-Säuglinge waren "vollreife Neugeborene". Dass Sabine Hilschenz neunmal Babys tot geboren haben könnte, will selbst ihr Anwalt nicht glauben. "Aber es ist nicht zweifelsfrei auszuschließen, dass dies bei Nummer sechs oder acht zutrifft. Dann heißt es - in dubio pro reo."
Auf die Hilfe einer geständigen Angeklagten wird die Staatsanwaltschaft nicht rechnen können. Sabine Hilschenz will sich gerade mal an die ersten beiden heimlichen Entbindungen erinnern können. Die erste, im Spätsommer 1988, sei eine Sturzgeburt im Bad gewesen, gab sie in ihren Vernehmungen an. Sie sei auf der Toilette bewusstlos zusammengebrochen. Als sie wieder aufgewacht sei, habe das Baby in der Kloschüssel gesteckt, mit blau angelaufenem Kopf und Schaum vor dem Mund.
Fast vier Jahre später, im Mai 1992, stirbt das zweite Baby. Da absolviert Sabine Hilschenz ein Fortbildungsseminar in Goslar und gebärt das Kind unbemerkt in einer Pension. Sie habe danach, so die Staatsanwaltschaft, den wimmernden Säugling "mit einer Steppdecke bedeckt" - in Tötungsabsicht. Was Hilschenz bestreitet. Am nächsten Tag fährt sie mit einer Kollegin zurück. Im Kofferraum: ihre Tasche mit der Leiche.
Von Anfang 1993 bis Ende1998, in nur sechs Jahren, entbindet sie weitere siebenmal. Doch vor der Polizei gibt sie an, sich überhaupt nicht entsinnen zu können; sie sei jedes Mal stark betrunken gewesen. Die Zahl bestreitet sie nicht. Die Ermittler gehen davon aus, "dass diese sieben Babys unversorgt verdursteten oder in Plastiktüten erstickten".
Dass die Taten im Vollrausch begangen wurden, glaubt der psychologische Gutachter Matthias Lammel nicht: Sie habe mit Alkohol nur den Geburtsschmerz "betäuben" wollen. Doch wie sicher kann er sich sein? Denn Sabine Hilschenz hat in drei Gesprächen mit ihm nicht über die Taten, sondern nur über ihr Leben berichtet. Für seine Expertise stützt er sich auf die 23-bändige Ermittlungsakte - und auf das, was nun im Prozess zur Sprache kommt. Die Anklage ist jedenfalls davon überzeugt, dass eine Frau im Vollrausch niemals Blut, Babys und Nachgeburten so perfekt hätte beseitigen können, wie Sabine Hilschenz es stets tat.
Und Spuren hat sie offenbar nie hinterlassen. Selbst einen Schwangerschaftsbauch will an der zierlichen Frau niemand bemerkt haben, niemand die Geburten gehört haben. Kein Nachbar aus den anderen 23 Wohnungen des Plattenbaus - ein hellhöriges Haus mit Mietern, die schon berufsbedingt gut beobachten konnten, denn sie waren fast alle bei der Stasi, wie ihr Ehemann.
Als Oliver Hilschenz doch
einmal "verwundert" war, weil seine Frau ihm etwas "füllig" erschien - da habe sie eine Schwangerschaft "vehement verneint" und behauptet, auch ihre Mutter sei so veranlagt - "mal korpulent, mal dünn". Thema abgehakt.
Um ihr schwankendes Gewicht zu erklären, habe sie laut Vernehmung ihrer Schwester Jutta immer "unterschiedliche Gesundheitsprobleme" vorgeschoben, Wassereinlagerungen oder Zysten. Außerdem, so sagte Sabine Hilschenz selbst aus, habe sie während der Schwangerschaften nicht so sehr zugenommen - sie habe das mit weiten Oberteilen gut kaschieren können.
Wie glaubhaft ist Oliver Hilschenz' Aussage, ihm sei selbst im Bett nichts aufgefallen? Für die Bonner Medizinprofessorin Anke Rohde erklärlich: "Selbst wenn sie bis kurz vor der Geburt noch Verkehr gehabt haben sollten - beim schnellen Sex im Dunkeln oder im T-Shirt sehen manche Männer keinen Bauch. Vor allem: Sie wollen vielleicht auch nichts merken. Das ist einfacher."
Wie Oliver Hilschenz, der auch nie etwas bemerkt haben will? Nicht im Bett, nicht im Bad, auch nicht in der Enge des Wohnwagens, mit dem die Familie nach Slowenien, Italien, Kroatien fuhr.
Am 30. Mai will das Gericht ein Urteil fällen. Egal, wie es lautet, danach wird Sabine Hilschenz mit ihrem Ex-Mann noch eine gemeinsame Entscheidung treffen müssen: wo und wie ihre neun toten Babys beerdigt werden sollen. So sieht es Paragraf 1698 b des Bürgerlichen Gesetzbuches vor. Insofern geht ihre elterliche Fürsorge über den Tod der Kinder hinaus - auch wenn sie vorher nicht einmal für deren Leben reichte.