Da liegt sie nun in der Erde, in einem weißen Sarg, zumindest muss man davon ausgehen, dass sie darin liegt, denn ein Imam hat die Totenzeremonie abgehalten, und einem Geistlichen schenkt man doch Vertrauen. Das gebietet der Respekt. Zweifel säen eher die Umstände, unter denen sie zur unsichtbaren - und auch unfreiwilligen - Hauptakteurin einer politischen Aktion wurde.
Seit Tagen wirbt das "Zentrum für Politische Schönheit" (ZPS) multimedial um Aufmerksamkeit und finanzielle Unterstützung für das Projekt "Die Toten kommen". Innerhalb eines Tages sammelte das Künstlerkollektiv per Crowdfunding Spenden in Höhe von knapp 34.000 Euro ein, um tote Flüchtlinge zu identifizieren und in Würde zu beerdigen. In Deutschland. Damit hier niemand länger die Augen verschließe vor dem Sterben auf dem Meer.
Tabubruch und Grenzüberschreitung
Wie schon zuvor, als sie die Mauerkreuze, die an die Toten der deutschen Teilung erinnern, an die europäischen Außengrenzen entführten, geht es um Fundamentalkritik an der Flüchtlingspolitik Europas. "Wir fordern den europäischen Mauerfall", sagt der "Eskalationsbeauftragte" des ZPS.

Tabubruch und Grenzüberschreitung sind die Markenzeichen des ZPS, das sich damit in die große Lücke schiebt, die Künstler wie Joseph Beuys und Christoph Schlingensief hinterlassen haben. Beide setzten den eigenen Körper als Instrument ein, beide waren Pioniere der medialen Mobilmachung im Namen der Kunst. Das kapitalistische Gefälle zwischen Körpern erster und zweiter Klasse demonstrierte bislang niemand klarer, radikaler und auch zynischer als der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra, der zum Beispiel Kubaner dafür bezahlte, sich eine Linie auf den Rücken tätowieren zu lassen. In diesem Zusammenhang muss man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit betrachten: Es geht, unter anderem, um Kunst.
Ehrentribüne bleibt leer
Das muss man wissen, wenn man den beschaulichen Landschaftsfriedhof Gladow besucht und am Grab der nicht namentlich genannten Syrerin Menschen mit Ruß verschmierten Gesichtern stehen. Wenn die mit rotem Teppich bespannte Ehrentribüne mit den Plätzen für Bundeskanzlerin Angela Merkel, Innenminister Thomas de Maiziere und etliche Ministerialräte leer bleibt. Und wenn die Intendantin des Gorki Theaters, Shermin Langhoff, das Gesicht hinter Handteller großen Sonnengläsern verborgen, in tiefer Trauer als erste ein Liliengesteck ans offene Grab trägt.
Die Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit verschwimmen. Hier die unsichtbare, womöglich gar imaginäre Tote, dort die theatralische Aufführung von Wirklichkeit.
Angehörige dürfen nicht anreisen
Philipp Ruch, "Chefunterhändler" des ZPS, berichtet von zähen Verhandlungen mit Italien: Nachdem es dem ZPS-Team gelungen sei, die Identität der in Sortino in der Provinz Syrakus anonym beerdigten Toten zweifelsfrei zu belegen, habe es die sizilianischen Behörden über Monate zwingen müssen, die eigenen Dokumente umzuschreiben. Denn nur mit einem amtlichen Totenschein war eine Überführung der Leiche möglich. "Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Angehörigen zu finden. Das ist uns gelungen. Sie leben nicht in Berlin, sondern westlich von hier. Ihr Asylverfahren ist noch nicht eröffnet worden. Sie durften nicht zur Beerdigung anreisen."
Die Tote sei 34 Jahre alt geworden. "So wie ich", fügt Ruch leise hinzu, und es ist das erste Mal, dass der kühl agierende Kopf des ZPS eine persönliche Regung zeigt. Auch die zweijährige Tochter sei auf dem Meer gestorben, ihr Verbleib ungewiss. Nach Deutschland schafften es ihr Mann und zwei weitere Kinder. Die Familie stamme aus Damaskus und sei über den Sudan, Ägypten und schließlich Libyen geflohen. Von dort hätten sie versucht, mit einem Boot das Mittelmeer zu überqueren.
Nächste Aktion vor dem Kanzleramt
Gibt es einen Anlass, den ZPS-Aktivisten diese Geschichte nicht abzunehmen? Sie liefern keine Belege für ihre Darstellung, und den Angehörigen, die von ihrem Leid hätten erzählen könnten, sei die Reise nach Berlin nicht erlaubt worden.
An der Botschaft des Zentrums für Politische Schönheit, dem Widerstand gegen eine als unmenschlich empfundene Abschottungspolitik Europas, würde das nichts ändern. Die Wahl der Mittel macht hier den Unterschied: Eine Menschenrechtsorganisation müsste Dokumente vorweisen, um ihrem Anliegen Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Eine Gruppe von Performern bewegt sich im Bereich des Imaginären. Sie spielt mit Darstellungsformen, Wirklichkeitskonstruktionen und Überhöhung. Und lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Schon morgen will das ZPS vor dem Bundeskanzleramt ein fünf mal drei Meter großes Baustellenschild installieren. Es kündigt die Umwandlung des Vorplatzes in ein "Friedhofsfeld der Superlative" an. Vor Angela Merkels Fenstern soll "eine Gedenkstätte für die Opfer der militärischen Abriegelung Europas" entstehen. Am Sonntag ab 14 Uhr wird sich dann zeigen, wie nahe sich Inszenierung und Wirklichkeit kommen. Unterstützer mit Presslufthammer seien zum Baubeginn willkommen.