Herr Richter, den Krankenkassen droht ein Defizit von 7,5 Milliarden Euro. Die FDP wettert erneut gegen den Gesundheitsfonds und sagt, er gehöre abgeschafft. Hat sie recht?
Nein, das Defizit hat mit dem Fonds nichts zu tun. Die Ausgaben steigen vor allem , weil die Politik den niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern Milliarden Euro zusätzlich gewährt. Und die Kasseneinnahmen brechen wegen der Wirtschaftskrise ein. Das wäre in jedem Fall passiert, aber ohne die Reform wäre die Entwicklung vermutlich noch dramatischer. Der Gesundheitsfonds sorgt für verschärften Wettbewerb unter den Krankenkassen, und den brauchen wir, um die steigenden Kosten in den Griff zu bekommen. Wir sollten mehr Geduld haben und die Reform wirken lassen.
Das dramatische Defizit bringt jetzt nicht das ganze System ins Wanken?
Die Sorge teile ich nicht. Die Krankenkassen werden lediglich Zusatzbeiträge erheben müssen. Da diese sich von Kasse zu Kasse unterscheiden werden, kommt endlich Wettbewerb in Gang. Dieser zwingt die Krankenkassen, sich mehr Gedanken über Kosten und Nutzen der Gesundheitsausgaben zu machen.
Eine weitere Kritik der FDP: Der Gesundheitsfonds sei ein bürokratisches Monster. Können Sie das nachvollziehen?
Da liegt ein grobes Missverständnis vor. Der Fonds verwaltet derzeit rund 168 Milliarden Euro und beschäftigt dennoch lediglich 21 Menschen. Im Grunde ist der Fonds nur ein Computerprogramm. Bürokratie gibt es da nicht.
Der Fonds wurde Anfang 2009 von SPD und Union eingeführt. Was waren die Hauptziele der Gesundheitsreform?
Er sollte vor allem die Form des Wettbewerbs unter den Krankenkassen verändern. Früher haben sie sich einen Wettbewerb über die Höhe der Beitragssätze geliefert. Das machte den Preis der nachgefragten Ware abhängig vom Einkommen - ein Kuriosum. Stellen Sie sich mal vor, Geringverdiener könnten im Restaurant verlangen, dass ihr Steak nur zwei Euro kostet. So funktioniert Marktwirtschaft nicht, das verzerrt den Wettbewerb. Im Gesundheitswesen ging das nur über Zwangsmitgliedschaft.
Was hat der Gesundheitsfonds daran geändert?
Die Reform fußt auf zwei Säulen. Erstens: Die Kassen haben größere Vertragsfreiheiten im Verhältnis mit den medizinischen Leistungserbringern bekommen. Zweitens: Sie konkurrieren nicht mehr bei den Beitragssätzen, weil der Staat jetzt einen Einheitssatz festlegt. Den Wettbewerb müssen sie sich nun über attraktive Wahltarife, Zusatzbeiträge und Boni liefern.
Wie fällt Ihre Bilanz nach den ersten neun Monaten aus?
Tatsächlich hatte ich gehofft, dass der Wettbewerb schneller in Gang kommt. Aber bei so einer umfassenden Neuordnung müssen alle erst einmal lernen. Die Krankenkassen waren im Grunde öffentliche Behörden, die plötzlich unternehmerisch denken sollen. Diese Umstellung kann man nicht von heute auf morgen erwarten. Aber die große Fusionswelle, die die Krankenkassenlandschaft erfasst hat, ist ein erstes Zeichen, dass der Wettbewerb wie gewünscht anspringt.
Was halten Sie von den Forderungen der FDP und der CSU, den Gesundheitsfonds wieder abzuschaffen?
Das wäre fatal, wenn man jetzt alles wieder rückgängig machte. Ich weiß nicht, wie die Alternative aussehen sollte.
Wo sehen Sie zumindest Nachbesserungsbedarf?
Am wichtigsten ist der Krankenhaussektor. Der verschlingt rund ein Drittel der Kasseneinnahmen. Deutschland hat da viel zu üppige Kapazitäten. Hierzulande gibt es in der Akutversorgung 5,7 Betten pro 1000 Einwohner, der OECD-Schnitt liegt bei 3,8. Schweden und die USA kommen mit deutlich weniger aus. Wir haben noch keinen Weg gefunden, die Kapazitäten auf ein vernünftiges Maß zurückzufahren. Das liegt vor allem an den Bundesländern, die hier bei der Reform gemauert haben.

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Glauben Sie, dass die neue Regierung diesen Bereich angehen wird?
Nein, das ist wohl ein zu großes Rad. Das werden sich Union und FDP nicht trauen.
Sollte die schwarz-gelbe Koalition die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Versicherung aufheben?
Langfristig sollte es nicht mehr die herkömmliche Unterscheidung zwischen privater und gesetzlicher Versicherung geben. Stattdessen sollte es eine Basis- und Zusatzversicherung geben. Die Basisversicherung ist Pflicht, deckt das medizinisch Notwendige ab und wird über den Fonds solidarisch finanziert. Der Wettbewerb wird über Zusatzbeiträge und Boni ausgetragen. Daneben gibt es Zusatzversicherungen, die man freiwillig abschließen kann; sie sollten so funktionieren wie die Privatversicherungen heute. In beiden Segmenten sollten gesetzliche und private Anbieter gleichberechtigt um Mitglieder konkurrieren können.
Da decken sich doch Ihre Vorstellungen grob mit denen der FDP?
Die Richtung stimmt, aber das ist ein sehr schwieriger Prozess, den man mit Bedacht angehen muss - und nicht so überstürzt, wie es die Liberalen offenbar wollen. Mich irritieren Passagen aus dem Regierungsprogramm und die Aussagen von einzelnen FDP-Politikern. Da bekommt man den Eindruck, dass die eine vage Vorstellung von dem Gebäude haben, aber sie begreifen nicht, welche Bausteine tragend sind und welche nur zur Dekoration.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ja klargestellt, dass der Gesundheitsfonds nicht grundsätzlich zur Disposition steht. Was glauben Sie, wo sich die FDP durchsetzen könnte?
Die FDP wird auf die Abschaffung der sogenannten Überforderungsklausel drängen, was die meisten Ökonomen begrüßen. Die Klausel begrenzt zur Zeit die Zuzahlungen für Geringverdiener. Das ist zwar sozial, aber für den Wettbewerb unter den Krankenkassen kontraproduktiv. Außerdem erwarte ich, dass man die Praxisgebühr abschafft. Das kann die FDP dann als Bürokratieabbau und soziale Errungenschaft verkaufen.
Wolfram Richter
Der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Dortmund gilt als geistiger Vater des deutschen Gesundheitssystems. Er hat das Konzept des Gesundheitsfonds, der Anfang 2009 von der Großen Koalition eingeführt wurde, entworfen.