Sexualtäter Mein Freund, der Feind

  • von Frauke Hunfeld
Nach fünf Wochen in der Gewalt eines Sexualtäters konnte Stephanie aus Dresden befreit werden. Jahre zuvor hatte der Mann schon ein anderes junges Mädchen gefangen gehalten: Jana. Zum ersten Mal spricht Jana nun über ihr Martyrium mit Mario M., den sie einst geliebt hatte.

Jana (Name von der Redaktion geändert) hatte nicht gleich an ihn gedacht. Dann, als sein Name in der Zeitung stand, wollte sie es nicht wahrhaben. Vielleicht war es ja ein anderer Mario, der Stephanie entführt hatte? Als sie dann aber sein Foto in der Zeitung sah, kamen all die entsetzlichen Erinnerungen in ihr hoch. Alles, was sie längst vergessen haben wollte.

Der Mario war es also gewesen, der Stephanie am 11. Januar auf dem Schulweg entführt hatte. Er war es, der sie gefangen gehalten hatte in einer Wohnung im Erdgeschoss mit heruntergelassenen Jalousien. Er war es, der die 13-Jährige missbraucht und so in seine Gewalt gebracht hatte, dass sie nicht einmal versuchte zu schreien. Dass sie nicht mal probierte wegzulaufen, als er nachts mit ihr durch das Viertel ging.

Jana konnte das verstehen. Sie konnte verstehen, wie er das geschafft und warum Stephanie das zugelassen hatte. Jana dachte an ihre eigene Angst, damals, sieben Jahre zuvor. Erst war sie seine Freundin gewesen. Dann wurde sie seine Gefangene. Heute denkt sie darüber nach, was wohl passiert wäre, wenn sie damals zur Polizei gegangen wäre.

Die junge Frau, zierlich, mit dunklem Haar, sitzt in ihrer Dresdner Altbauwohnung, der zweijährige Sohn turnt auf ihrem Schoß, der Lebensgefährte bringt Kaffee. Leise redet sie, oft mit gesenktem Blick. Zum ersten Mal spricht sie über die Zeit damals. Und man ahnt, dass das, was Jana vor Jahren erlebte, wohl der Anfang der grausamen Karriere eines von Ängsten und Kontrollwahn zerfressenen Menschen war: Mario M.

"Ich war 17, sah aber aus wie 14", erinnert sich Jana. "Mario stand vor unserer Tür, er suchte nach einem anderen Mädchen, das er kurz zuvor kennen gelernt hatte." Und, "wir mochten uns. Er kam mit Blumen wieder. Er war selbstsicher, schon erwachsen. Ich war sofort verliebt, und ich wollte zu Hause raus. Am Anfang war alles sehr schön".

Jana zog zu ihm, sobald sie 18 war. Die Eltern waren nicht begeistert, aber der Vater meinte, Mario könne wenigstens aufpassen auf seine Tochter. Kurz darauf schmiss Jana das Gymnasium. Anfangs bemerkte sie Marios Eifersucht kaum, die misstrauischen Blicke, mit denen er ihre Freunde bedachte, den Argwohn, wenn er wissen wollte, wo sie war. Sie ging auf seine Bitten ein, zeitig zu Hause zu sein, zu sagen, wohin sie ging, wann sie zurück ist. Spät registrierte sie, wie ihre Welt immer kleiner wurde, ihre Aktivitäten seltener, ihre Freunde immer weniger. Wie selbst der Kontakt zu den Eltern einschlief. Und als sie aufwachte, war es zu spät. "Ich hatte niemanden mehr", sagt sie, "niemanden außer ihm."

Je weniger Mario, ein gelernter Anlagenbauer arbeitete, je seltener er Aushilfsjobs hatte, desto schlimmer wurde es. Jana und seine beiden Hunde waren das Einzige, was er noch unter Kontrolle hatte. Er mäkelte an ihrer Kleidung; dass andere gucken könnten; dass sie jemanden reizen könnte. Er wollte nicht, dass sie ohne ihn am Abend fortging. Dann wollte er nicht, dass sie tagsüber die Wohnung verließ. Erst kontrollierte er, dann sperrte er sie ein. Schließlich ließ er sie nicht mal mehr zur Arbeit gehen. "Wir saßen immer nur zu Hause, und das Leben rauschte an uns vorbei", sagt Jana. "Ich stand früh auf, ging abends ins Bett, und den ganzen Tag war nichts gewesen außer Computerspielen, Fernsehen, Lesen, wieder Fernsehen."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Sogar wenn jemand Jana im Supermarkt anrempelte, glaubte Mario nicht an Zufall. Ein Blick in der Straßenbahn - als sie die unter seiner Aufsicht noch benutzen durfte - endete mit einer blutigen Keilerei. Einmal wollten sie mit dem Zug zu seinen Eltern fahren. Die Fahrt wurde zum Fiasko: Zu viele Männer hatten sie angesehen, Mario drehte fast durch. Das nächste Mal fuhren sie die hundert Kilometer mit dem Fahrrad.

Jana sollte auch keine Röcke tragen, weil er fürchtete, im Gully könnten welche sitzen, die ihr zwischen die Beine sehen. Einkaufen durfte sie nicht, denn in der Umkleidekabine könnte sie ja jemand beobachten. Schließlich trug sie nur noch seine T-Shirts. Unterwäsche und Hosen musste sie im Katalog bestellen. Anprobieren durfte sie die Sachen allerdings nicht sofort: Sie mussten erst gewaschen werden.

Der Grund: sein Schmutzwahn. Jedes Mal, wenn Mario M. die Wohnung betrat, zog er sich aus bis auf die Unterwäsche. Nichts von der Straße sollte in die reine Wohnung. Nach jedem Einkauf wurden die erworbenen Sachen gewaschen. Als sie einmal etwas wegräumte, was noch nicht gereinigt war, zerschlug er vor Wut die Kücheneinrichtung. Dann sein Verfolgungswahn: Überall vermutete er Kameras - in Haushaltsgeräten, im Computer, im Telefon. Die Jalousien mussten stets unten bleiben - von gegenüber könnte sie jemand beobachten.

Anfangs versteckte er seine Vorliebe für junge Mädchen. Doch in einem Geheimfach im Kleiderschrank fand Jana FKK-Magazine mit nackten Kindern. Später tapezierte er das ganze Schlafzimmer mit neun- bis elfjährigen nackten Mädchen.

Vor die Haustür hatte Mario M. einen Eisenriegel montiert. Gelegenheiten zur Flucht hätte Jana trotzdem gehabt. Aber etwas hinderte sie: "Die Angst. Die Angst, dass alles noch schlimmer wird", sagt sie heute. Angst vor seiner Aggressivität, vor seinen Stimmungsumschwüngen. Wenn sie etwas tat, was ihm nicht gefiel, prügelte er vor Wut die Hunde fast tot. Kurz darauf war er wieder freundlich. Als er mal ein paar Tage fortmusste, nahm Jana allen Mut zusammen. Floh, organisierte sich eine kleine Wohnung, hatte ein paar Wochen Ruhe. Dann fand er sie. Trat die Tür ein, vergewaltigte sie. Jana wurde schwanger. Als das Kind im fünften Monat starb, ließ er sie nicht in die Klinik. Erst als sie nach zwei Wochen mit einem toten Kind im Bauch zusammenbrach, rief er den Krankenwagen.

1999 war Janas Martyrium vorbei. Die Polizei verhaftete Mario M. wegen Vergewaltigung einer 14-Jährigen. Er wurde vor ihrer Haustür festgenommen.

Zurück blieb ein junges Mädchen, traumatisiert, sprachlos. "Ich war einfach nur froh, dass es vorbei war", sagt sie. M. schrieb ihr noch Briefe aus dem Knast, mit seinem eigenen Blut, in Versform, von ewigem Zusammensein. Den Kontakt zu den Menschen aus ihrem Leben vor Mario M. hatte sie verloren. Niemand interessierte sich für sie, niemand fragte sie, was passiert war. Und sie sagte nichts.

Mario M. kam in Haft. Eine Therapie lehnte er ab, ansonsten war er nicht weiter auffällig. Einer Gutachterin erzählte er, dass er geglaubt habe, das Mädchen, das er vergewaltigt habe, sei in ihn verliebt; von Jana erzählte er nichts. Die Gutachterin stellte keine sexuellen Störungen oder psychischen Erkrankungen fest. Und dass von Mario M. eine Gefahr ausgehen könnte, hielt sie für unwahrscheinlich. 2002 kam Mario M. vorzeitig auf Bewährung frei, sein Name in das Polizeiliche Auskunftssystem.

Ende 2005 lief Mario M.s Bewährungszeit aus. Kurz drauf, am 11. Januar 2006, brachte er Stephanie in seine Gewalt, erst fünf Wochen später konnte sie befreit werden. Seither stehen viele Fragen im Raum: Hätte man den Mann nicht im Blick behalten müssen? Hätte man nicht gleich, am Tag nach Stephanies Verschwinden, mit voller Kraft alle Sexualstraftäter überprüfen müssen? Oder alle Gewalttäter? Oder beides? Wozu hat Sachsen ein modernes Auskunftssystem? Hätte einer wie Mario M. nicht ganz oben auf jeder Liste stehen müssen? Berechtigte Fragen. Die Antwort lautet: Nein.

Nichts hatten die Polizisten am Tag ihres Verschwindens von Stephanie gefunden, nichts in den Tagen danach: absolut nichts, obwohl zentimeterweise ihr Schulweg abgesucht wurde. Keine Spuren eines Kampfes, keine Fußabdrücke. Keinen Hinweis auf eine Gewalttat oder ein Sexualdelikt. Jeden Tag werden Jugendliche vermisst gemeldet. Die meisten sind nach wenigen Stunden wieder da, einige erst nach Tagen. Sie nehmen sich eine Auszeit, reisen zum neuen Freund oder der Lieblingsband hinterher - wie kürzlich die 14-jährige Juliane aus Sachsen, die man in Kärnten fand. Bei Tokio Hotel.

So tat man im Fall Stephanie, was man immer als Erstes tut: Rundspruch an alle: Polizei, Taxiunternehmen, Busfahrer, Flughäfen, Krankenhäuser, Rettungsamt, Leitstelle der Feuerwehr - ohne Erfolg.

Was könnte passiert sein?, fragten die Ermittler. Warum gerade sie? Jede Version wird recherchiert - ist sie freiwillig mitgegangen, hat sie einen Freund? Ist sie entführt worden? Auch ein beabsichtigter Suizid beginnt oft mit dem Verschwinden.

Parallel dazu laufen die Abfragen im Polizeilichen Auskunftssystem. Wen sucht man überhaupt? Gewalttäter? Sextäter? Beides? Auch Kinderpornografen? Exhibitionisten? Wo fängt man an? Je weiter man die Suche fasst, desto mehr Namen spuckt der Computer aus, desto länger dauern die Überprüfungen. Und wenn man eines nicht hat - sollte das Opfer noch leben -, dann ist es Zeit. Aber je enger man die Suche eingrenzt, umso größer die Gefahr, dass der Entscheidende, sollte er erfasst sein, durchs Netz fliegt.

Und wie "überprüft" man einen? Fragt den Arbeitgeber, ob der Verdächtige auf Montage war, oder krank? Darf man das, obwohl im Polizeilichen Auskunftssystem nicht nur verurteilte Straftäter stehen, sondern auch solche, die man mangels Beweisen nicht verurteilen konnte, oder die man zwar für unschuldig hielt, aber nicht mit allerletzter Sicherheit. Im Fall Stephanie entschied sich die Soko für die Sexualstraftäter. Allein im Stadtgebiet Dresden sind rund 1000 Männer erfasst. Jedes Jahr kommen zig neue hinzu. Man suchte zunächst im Umfeld der Wohnung. Der Computer spuckte 56 Namen aus.

Dann passierte er, der entscheidende Fehler: Vor 2002 hieß das Delikt "sexuell motivierte Straftaten". Mario M. hatte seine Vergewaltigung 1999 begangen. Auf der in "Sexualstraftäter" umbenannten Liste tauchte er nicht auf - niemand bemerkte, dass die "Altfälle" fehlten. Als Stephanie gefunden wird, sind die Ermittler bei Nr. 27 der neuen Liste.

Stephanie hatte auf den nächtlichen Spaziergängen, zu denen Mario M. sie mitnahm, Hilferufe auf Zetteln ausgelegt. Ein Passant hatte einen davon entdeckt und die Polizei alarmiert. Die stand nun im Kreuzfeuer der Kritik, wurde für die wochenlangen Qualen des Mädchens verantwortlich gemacht. Hätte man Stephanie eher finden können ohne diesen Fehler? "Vielleicht", sagt Staatsanwalt Christian Avenarius. "Vielleicht auch nicht."

"Nehmen wir an", sagt Avenarius, "Mario M. hätte auf der Liste ,Sexualstraftäter" gestanden. Man hätte recherchiert: einschlägig vorbestraft, vorzeitig entlassen, Bewährungsauflagen erfüllt. Man hätte die Nachbarn befragt, das Übliche. Dann geklingelt. Er hätte geöffnet. Vielleicht hätte er sich verraten - geschwitzt, gestottert. Eine falsche Handbewegung, ein merkwürdiges Zucken, irgendwas. Vielleicht hätte er aber auch ganz ruhig dagestanden und gesagt: Ich habe meine Strafe verbüßt, die Auflagen erfüllt. Ich will ein neues Leben anfangen. Wenn Sie reinwollen, besorgen Sie sich einen richterlichen Beschluss." Den", sagt Avenarius, "hätten wir wohl nicht bekommen. Mit was denn?"

Sexualstraftäter müssen

nach der Haftentlassung überwacht werden, forderte der sächsische Innenminister nach dem Fall Stephanie. Das klingt gut. Man tut etwas. Aber bei mehr als 50000 erfassten Sexualstraftaten im Jahr ist es illusorisch.

Und selbst wenn es dazu kommt, wie kürzlich im Fall des Berliner Sextäters Jens A. - es bietet keine Garantie. Er hatte seine Haftzeit für die Vergewaltigung eines Achtjährigen verbüßt, war ohne Angabe der Adresse entlassen worden. Aus dem Knast hatte er der Mutter seines Opfers Drohbriefe geschrieben. Zwei Kripo-Beamte hefteten sich an seine Fersen. Sie konnten ihn zwar schnell ausfindig machen - aber nicht 24 Stunden am Tag beobachten. Wenige Tage in Freiheit, missbrauchte Jens A. zwei Jungen.

Jana, die nie zur Polizei gegangen war, wusste nicht mal, dass Mario M. frei war. Bis sie ihn dann traf, zufällig, im vergangenen Sommer. Und nur eins wollte - weg. Tausend Umwege ist sie gelaufen, gerannt, damit er ihr nicht hinterherkommt, nicht erfährt, wo sie jetzt wohnt. Im Dezember stand er noch mal vorm Haus ihrer Eltern. Hat nach ihr gefragt und nach ihrer Adresse. Ein paar Wochen später entführte er Stephanie.

Wie es weitergegangen wäre mit Stephanie? "Ich weiß nicht", sagt Jana leise. "Vielleicht hat er in dem Wahn gelebt, Stephanie fügt sich irgendwann und gibt auf", sagt sie. "So wie ich."

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